Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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HARFIM - 2. Mär, 00:10
Schreibheimat
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sarah.tegtmeier - 1. Mär, 22:25

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Geschichten

13
Mai
2010

Mathematik ist einfach

Daniel überflog die Lösung der Übungsaufgaben für die Algebravorlesung. Stundenlang hatte er darüber gebrütet, bis er endlich einen Geistesblitz gehabt hatte. Eigentlich war Mathematik ganz einfach: Mit der richtigen Idee ergab sich der Rest von allein und man musste die Lösung nur noch aufschreiben. Er heftete die Zettel ab. Jetzt konnte er doch zu Roberts Geburtstagsparty gehen.  Er steckte das Geschenk für den Freund in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg. Er freute sich Robert wiederzusehen. Zuletzt hatten sie sich während der Semesterferien getroffen. Er schlenderte durch den lauen Spätsommerabend und pfiff und summte vergnügt. Eine halbe Stunde später klingelte er bei Robert. Kurz darauf hörte er, wie jemand durch das Treppenhaus herunter rannte, dann öffnete Robert die Tür.

"Ach, hallo Daniel!", schnaufte er. "Blöder Türöffner! Seit Wochen ist der nun kaputt!"

Er drehte sich um und schlurfte mit hängenden Schultern zu den Treppen.

"Hallo, Robert! Wie geht's?", fragte Daniel und wunderte sich über die unfreundliche Begrüßung. "Warum warst du bisher nicht in den Vorlesungen?"

"Ach, ich weiß nicht, keine Lust, mir ging es nicht so gut", wich der Freund aus.

Als die beiden die erste Etage erreichten, klingelte in einer der oberen Wohnungen ein Telefon.

"Das ist meines", Robert schien froh, das Gespräch beenden zu können, und lief voraus. Daniel trottete hinterher. Sein Blick wanderte über die mit Graffitti beschmierten Wände. Unter seinen Schritten ächzten den Dielen.  Wie konnte sich Robert in diesem heruntergekommenen Haus nur wohl fühlen? Als er die Küche des Freundes betrat, sah er ihn im Nebenzimmer telefonieren.

"Ja, schade, dass du nicht kommen kannst", sagte Robert in den Hörer, "bis demnächst, tschüß!"

Das Gespräch schien beendet, aber Robert hielt den Hörer noch ein paar Sekunden an sein Ohr, dann legte er ihn langsam auf den Schreibtisch und stützte sich mit beiden Armen ab.

"Scheiße! Scheiße!", flüsterte er so leise, dass sich Daniel nicht einmal sicher war, ob er sich verhört hatte. Er legte seinen Rucksack neben dem Esstisch ab und zog das Geschenk für Robert heraus. Auf dem Küchentisch waren einige Schälchen mit Käse, Tomaten, Champignons und Mais hergerichtet. Davor lag auf einem Holzbrett eine angeschnittene Zwiebel.

Robert kam aus dem anderen Zimmer zurück. Als er durch die Tür ging, schlug er mit einer Faust gegen den Rahmen. Er setzte sich Daniel gegenüber auf einen Stuhl und schnitt die Zwiebel in kleine Würfel. Ab und zu rieb er sich mit einer Hand die Augen.

"Noch eine Absage!", murmelte er, zerhackte die Zwiebel zu einem Brei und deutete auf die Schälchen. "Ich dachte, ich bereite Baguettes vor, die sich jeder selbst belegen kann"

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

"Robert! Was ist denn los?"

"Ich habe Geburtstag!"

"Ja, und?"

"Außer dir haben alle abgesagt. Das ist kein Geburtstag".

Robert stand auf und ging gestikulierend auf und ab.

"Und dann das scheiß Studium. Ich schaffe das nicht. Ich kenne zu wenig Leute. Ständig hocke ich in dieser dreckigen Wohnung und starre die Wände an. Ich kann nicht mehr."

Robert öffnete ein Fenster neben der Spüle und lehnte sich hinaus, seine Hände krallten sich um den Fensterrahmen. Daniel blickte verlegen auf das Geschenk. So kannte er Robert nicht, er hatte ihn immer für selbstsicher gehalten. Was sollte er machen? Auf den Bahngeleisen, die unter dem Fenster vorüber liefen, fuhr ein Güterzug vorbei. Die Waggons polterten, die Räder quietschten auf den Schienen. Plötzlich wusste Daniel, was er tun sollte: Robert in den Armen nehmen und ihn fest drücken, genau das brauchte der Freund jetzt. Die Erkenntnis war ihm so plötzlich gekommen wie am Nachmittag die Lösung für die Übungsaufgaben. Daniel stand auf, um zu Robert gehen, und bekam Zweifel, ob der Freund die Geste verstehen oder sie falsch interpretieren würde. Der Güterzug entfernte sich, das Poltern und Rattern der Waggons verhallte, die Lokomotive stieß einen letzten Signalton aus, dann war es wieder still. Robert wandte sich um und blickte Daniel mit glasigen Augen an.

"Was ist?", fragte er und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.

"Nichts, wieso?", antwortete Daniel und setzte sich wieder auf seinen Platz.

"Willst du ein Bier?"

13
Jan
2009

Konturen

Jeden Abend denkt Larissa, wenn sie auf der Bettkante sitzt und sich die Haare kämmt, war es das jetzt, muss es da nicht noch etwas mehr geben, muss das Leben nicht ein bisschen mehr nach Zuckerwatte schmecken? Sie blickt auf ihren Schreibtisch, der wie immer tadellos aufgeräumt ist. Briefe liegen dort, die Stifte, mit denen sie ihr letztes Bild gemalt hat. Sie denkt an das Gefühl, das sie hatte als sie die letzte Fläche ausmalte. Ein Mandala, sie benutzte nur vier Farben, weil ihr ein Freund vor kurzem erklärte, dass vier Farben reichen, um jedes Mandala so auszumalen, dass nie die gleiche Farbe aneinander grenzt. Sie nahm rot, schwarz, weiß und grau. Welche Weg würden die roten Flächen wählen? Wie würden sie sich verteilen? Sie mag diese Ungewissheit beim Malen, sie mag es, wenn sich Striche zu Umrissen ergänzen, die vorher nicht da waren. Deshalb malt sie lieber als bildhauern, da ist ja alles schon, da muss man nur das überschüssige Material entfernen. Aber beim Malen: Nichts ist da, das Blatt ist weiß und leer, man kann kein überschüssiges Material entfernen, muss dem Nichts eine Kontur geben, in der es sich auflöst, im Bild, in einer Zeichnung verschwindet.

11
Aug
2008

Morgen kann es losgehen

“Morgen kann es losgehen” Jan lehnte sich über den Tisch. Martha liebte diesen Ausdruck auf seinem Gesicht, ein tiefes Lachen, mit offenen Augen, strahlten eine Zuverischt aus, die sie selbst bei sich noch nicht spürte. “Freust Du dich schon?”

“Ja, irgendwie schon” Sie nippte an ihrem Milchkaffee, schaute aus dem Fenster ihrer Küche. “Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe.”

“Du schaffst das!” Jans Augen zwinkerten nicht eine Sekunde. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. “Du bist vorbereitet. Es kann nichts schief gehen. Warum zweifelst du?”

Er hatte gut reden, er musste es ja nicht machen, er musste sie nur aufmuntern. Sie hätte gern die Rollen getauscht, nein, nicht wirklich, sie freute sich ja auch, dass es morgen los ging. Aber seine Zuversicht irritierte sie.

“Du musst es ja nicht machen. Du hast gut reden.”

Sie senkte den Blick. Die Tischplatte reflektierte ihr Spiegelbild, blass, ein wenig unscharf, verschwommen. Was sie sah passte sehr gut zu ihren Gefühl.

“Das stimmt schon” Er wippte den mir dem Kopf. “Trotzdem beneide ich dich”

Sie sah ihn fragend an. Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. Er setzte sich aufrecht hin, leckte beide Hände mit den Handflächen nach oben auf den Tisch.

“Was habe ich davon? Ich kann nichts gewinnen? Ich kann dich nur beobachten.”

Sie kniff die Augen zusammen, verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte.

“Ich habe nichts, was ich morgen beginnen könnte. Ich werde um die gleiche Zeit aufstehen, duschen, mein Müsli machen, ein paar Tassen Kaffee trinken. Dann fahre ich ins Büro. Wenn ich Glück habe, werde ich mich nicht den ganzen Tag langweilen.” Er fasste ihre Hände, die sie ohne es richtig zu merken auch auf den Tisch gelegt hatte. “Aber du startest morgen in ein Abenteuer.”

“Und was wenn ich scheitere” Sie zog die Hand aus seinem Griff, nahm die leeren Tassen und stellte sie in die Spüle. “Wenn ich merke ich schaffe es nicht? Wenn es ein Desaster wird, wenn es sich als ein Fehler herausstellt?”

Sie wollte ihn jetzt nicht ansehen. Sie wusste genau, welchen Blick er jetzt drauf hatte. Diesen ironischen Schalk in den Augen winkeln, der alle Zweifel vertreiben konnte. Aber sie wollte zweifeln.

“Was kann dir den schon groß passieren” Er hatte dieses ärgerliche Talent, immer genau die Fragen zu stellen, die sie entwaffneten, die ihr klar machte, wie ungerechtfertigt ihre Bedenken waren. “Besteht für dich Lebensgefahr?”

Und jetzt schwieg er auch noch und wartete solange bis sie antwortete. Er konnte jetzt für den Rest des Abends am Tisch sitzen. Es machte ihm nichts aus. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, wie er sich langsam durch die Kleidung wühlte, bis sie den Blick in jeder ihrer Körperzellen spürte. Sie schüttelte den Kopf.

“Bringst du sonst irgendjemanden in Gefahr?” Diesmal wartete er nicht ab, sondern beantwortete seine Frage selbst “Nein, niemanden? Na also!”

“Etwas!”, murmelte sie und hoffte, dass er sie nicht hörte.

“Etwas?” wiederholte er. “Etwas! Was soll das den sein?”

Martha drehte sich von der Spüle weg, wieder Jan zu. Sie hielt den Kopf gesenkt.

“Das”, begann sie und rieb sich eine Haarsträhne aus der Stirn. “Das Bild das ich mir von mir gemacht habe. Wenn ich dieses Bild verliere, wenn es nicht stimmt, wenn es falsch ist?”

Einen Moment starrte er sie einfach nur, ohne sich zu bewegen, den Blick auf sie gerichtet, mit leicht geöffneten Mund.

“Ja, da hast Recht!” Er nickte langsam mit dem Kopf. “Was sollst du dann machen?”

Dann sprang er auf, lief aus der Küche und kam mit zwei Zeichenblock und einigen Stiften zurück.

“Zeig es mir!” Er riss ein Blatt von Block, strich es auf dem Tisch glatt. “Mal es mir auf!”

“Jan, du verstehst das nicht ...”

Er zog sie von der Spüle fort, schob sie auf den Stuhl, auf dem sie zuvor gesessen hatte und drückte ihr einen Stift in die Hand.

“Mal mir dein Bild von dir!”

“Jan” Martha lächelte unsicher.

Jan nahm die Hand, in der sie den Stift hielt, und führte sie in die Blattmitte: “Los fang an!”

Sie mochte Jans verrückte Ideen, das hier war wieder so eine. Aber gut! Sollte er seinen Willen bekommen. Punkt - Punkt - Komma - Strich - fertig ist das Mondgesicht. Kaum hatte sie Mund auf das Papier gemalt, hielt sie inne. Etwas daran stimmte nicht. Sie schlug einen Kreis um das Mondgesicht und kritzelte noch ein paar Haar dran. Aber auch das war noch nicht richtig.

“So das reicht!” Jan riss ihr den Bogen unter ihrem Stift weg. Er zog ein Feuerzeug aus einer Hosentasch und entzündete das Papier.

“Jan, was tust du da?”

“Ich verbrenne das Bild, das du dir von dir gemacht hast” Er hielt das brennende Papier. Asche rieselte auf den Boden. Er riss ein neues Blatt von dem Block und breitete es vor ihr aus.

“Los! Mal mir ein neues Bild!” Er hielt ihr einen anderen Stift hin. Sein Blick war ernst und tief. “Das ist der Unterschied, Martha! Zwischen dir und mir. Du hast ein Bild von dir. Ich habe keines von mir, hatte ich noch nie und werde ich nie haben.”

Er ließ den Stift fallen und sank auf seinen Stuhl.

“Wenn du es verlierst, dann malst du dir einfach ein Neues!”

Martha blickte auf das leere Blatt und spürte den Drang, den Stift zu ergreifen und zu malen.

28
Jan
2008

Das letzte Frühstück

"Nein, pfui, Max! Das ist nichts für dich"

Der Kater buckelte, als Karin Hofmann ihn von dem Frühstück wegschubste, das sie für ihren Vater bereitete.

"Karin!" Die Stimme ihres Vaters gellte aus dem ersten Stock. "Wo bleibt mein Frühstück?"

Sie blickte unschlüssig auf die Phiole, in die sie den Sud aus Hundspetersilie, geflecktem Schierling und Samen des Wunderbaums gefüllt hatte. Ihre Hand zitterte, als sie den Deckel der Phiole aufschraubte. Sie mochte den Geruch des Giftes: so roch Freiheit.

"Karin!"

Ihr Vater hatte sich nie für sie interessiert; seit er wegen des Schlaganfalls das Bett allein nicht mehr verlassen konnte, ließ er seinen Groll an ihr ab: Es reichte. Später erinnerte sie sich nicht mehr, wie sie das Gift in Saft und Kaffee gegossen hatte, nur an den letzten Tropfen, der sich zögernd vom Rand der Phiole gelöst hatte und glitzernd auf das Rührei gefallen war, erinnerte sie sich später und daran, dass sie auf der Treppe fast über Max gestolpert wäre.

"Wurde aber auch Zeit", knurrte ihr Vater, als sie das Tabelett auf den Nachtschrank stellte. "Soll ich auch noch hungern, reicht es nicht schon, dass ich nicht mehr allein laufen kann?"

"Nein, Vater, ich ..."

"Willste mir jetzt etwa auch noch zu gucken? Oder mich vielleicht sogar füttern?" Er schwang die Hand, in der er das Glas hielt. Orangensaft tropfte auf die Bettdecke. "Verschwinde! Und nimm deinen stinkenden Kater mit!"

Während Karin das Zimmer verließ, leerte der Vater das Glas in einem Zug. Nun würde es geschehen. Wie lange würde es dauern, bis das Gift wirkte? Sie ging hinunter in die Küche und setzte sich an den Tisch. Max sprang auf ihren Schoss und ließ sich von ihr kraulen.

"Karin! Uh! ... Mir ist ... Hilf mir, Karin!"

Sie presste die Hände auf die Ohren, starrte aus dem Fenster und beobachtete wie die Sonne empor stieg. Erst als sie aus dem Ausblick herausgewandert war, wagte Karin es, die Hände sinken zu lassen. Was für eine wunderbare Stille.

"Max!" Der Kater kletterte auf den Tisch und rieb sein Köpfchen an ihrer Wange. "Wir sind frei! Hörst du?"

Am liebsten wäre sie durchs Haus getanzt, aber ihre Freude dauert nicht lang. Schlagartig wurde ihr bewusst, was sie getan hatte, dass sie eine Geschichte brauchte, um zu erklären, wie ihr Vater gestorben war, und dass sie die Spuren beseitigen musste. Sie wollte gerade aus der Küche gehen, als jemand gegen das Fenster klopfte. Sie zuckte zusammen und erkannte den Arzt ihres Vaters erst nicht. Er gab ihr Zeichen, dass er zur Haustür gehe.

Fieberhaft überlegte sie, was sie dem Arzt erzählen sollte.

"Guten Morgen, Herr Dr. Kutzner! Ich bin so froh, dass Sie zufällig kommen" Ihr fiel nichts Besseres ein, als die besorgte Tochter zu spielen. "Mein Vater hatte heute Morgen Schmerzen in der Brust. Ich wollte Sie deswegen anrufen. Aber Sie wissen ja, wie er ist."

"Guten Morgen, Frau Hofmann! Eigentlich wollte ich Sie nur fragen, ob ich meinen Hut bei Ihnen vergessen habe." Dr. Kutzner trat ein. "Aber wo ich schon da bin, kann ich ja mal mit Ihrem Vater sprechen."

Als Karin den Arzt zum Schlafzimmer ihres Vaters führte, begann sie zu schwitzen. Sie fürchtete sich vor dem Anblick, der sie erwartete; hoffentlich schöpfte der Arzt keinen Verdacht.

"Vater!"

Sie erschrak, als sie die Leiche ihres Vater sah. Ein Arm hing schlaff an der Bettkante herunter. Erbrochenes quoll aus seinem Mund. Die Augen blickten zur Ecke.

Dr. Kutzner drängte sich an ihr vorbei. Er tastete nach dem den Puls des Toten und befühlte die Stirn.

"Es tut mir Leid, Frau Hoffmann" Dr. Kutzner ging auf Karin zu und nahm ihre Hände. "Ihr Vater ist tot."

"Tod? Nein, das kann doch gar nicht sein. Vorhin habe ich ihm doch noch das Frühstück gebracht."

Karin spürte, dass sie ihrem Gesicht nicht den richtigen Ausdruck geben konnte. Sie drehte sich vom Bett fort, lehnte die Stirn gegen die Wand.

"Ja, es sind wirklich seltsame Umstände" Dr. Kutzner legte eine Hand auf ihre Schulter. "Irgendwas stimmt hier nicht."

"Wie meinen Sie das?" Karins Puls hämmerte in ihrem Hals.

"Frau Hoffmann", Dr. Kutzner sah sie finster an. "Sie müssen mir genau erzählen, wie ihr Vater sich heute Morgen gefühlt hat."

"Als ich ihm das Frühstück brachte, sagte er, ihm sei schwindlig und er habe ein Stechen in der Brust, das Atmen strenge ihn an."

"Es fällt mir schwer Ihnen das zu glauben. Als ich Ihren Vater das letzte Mal untersuchte, waren sein Herz und seine Lungen in Ordnung." Der Arzt zeigt auf den Toten. "Die Merkmale an seinem Körper deuten daraufhin, dass er sich erst übergeben hat und dann erstickt ist. Das sieht mir nicht nach einem natürlichen Tod aus."

"Ich versteh nicht, was Sie damit andeuten wollen" Jetzt nur nicht die Nerven verlieren; was hatte er schon in Hand.

"Sie verstehen sehr gut. Glauben Sie etwa, ich hätte nicht bemerkt, wie das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Vater war." Dr. Kutzner zog ein Handy aus einer Hosentasche. "Ich muss die Polizei rufen."

"Was?" Karin schüttelte den Kopf "Wollen Sie damit etwa andeuten ..."

"Ich will gar nichts andeuten." Er tippte eine Nummer in das Telefon und sah sie mit düsteren Augen an.

Obwohl es ihr schwer fiel, zwang sie sich seinem Blick nicht auszuweichen. Wenn sie jetzt die Augen abwandte, wäre das so gut wie ein Geständnis. Sie musste die verwirrte Tochter spielen, die angesichts des plötzlichen Todes ihres Vaters den Vorwurf des Arzt nicht verstand.

"So, ja, also."

Ihr wurde übel. In ihrem Blick schmolzen die Gestalt des Arzt und die Leiche zu einem zerfransendem Fleck. Was war das für ein Klecks auf dem Nachtschrank. Sie rieb sich die Augen

"Nein", flüsterte sie, als sie begriff, dass der Kater sich über die Reste des Frühstücks hermachte. "Nein, Max, nein! Das darfst du nicht fressen!"

Sie packte Max und versuchte die letzten Bissen aus seinem Mund zu klauben. Der Kater fauchte, hieb mit den Krallen nach Karins Händen, weshalb sie ihren Griff löste. Der Kater flüchtete aus dem Zimmer.

"Herr Dr. Kutzner!" Sie wollte dem Kater folgen. "Er muss alles wieder ausspucken."

"Weshalb?" Der Arzt stellte sich ihr in den Weg.

"Er wird sterben, er darf nicht sterben!", kreischte Karin hysterisch. "Bitte, helfen Sie mir, wir müssen ihn finden. Haben Sie nicht ein Abführmittel oder so was?"

"Was ist mit dem Frühstück?" Dr. Kutzner packte Karin bei den Schulter. "Was haben Sie damit gemacht? Haben Sie Gift hineingetan?"

"Ja, ja!", seufzte Karin und sank auf die Knie. "Bitte, Dr. Kutzner, sie müssen Max finden. Er darf nicht sterben, nicht er, das wollte ich nicht."

27
Jan
2008

Nutte

„Na, los nun fahr schon! Grüner wird’s nicht!“

Martha haute die Faust auf die Hupe. Der rote Polo machte einen Satz nach, dann blieb er wieder stehen.

„So Idiot! So ein Sonntagsfahrer! Kann noch nicht an einer Ampel anfahren!“

Sie blickte über die Schulter, suchte im Verkehr nach einer Lücke. Endlich fand sie eine, sie scherte aus der rechten Spur aus, um den Wagen vor ihr zu überholen. Gerade als sie Gas geben wollte, sprang die Ampel am auf rot.

„Scheiße!“

Im Rückspielgel sah, wie die Fahrerin des Polo immer noch mit dem Anlasser kämpfte. So wie die aussieht hat die ihren Führerschein vor über 40 Jahren gemacht. Das die überhaupt noch fahren darf.

Martha drehte die Lautstärke des CD-Players hoch. Sie stand mit ihrem Wagen in der ersten Reihe an der Ampel. Ein älterer Herr humpelte über die Straße, er trug zwei aufgerissene Plastiktüten, aus denen Bierflaschen herausragten. Martha beobachtete den Mann, vor dem Bordstein bliebstehen, trat zwei Mal auf der Stelle, bevor einen Fuss hob zum Schritt hob. Genau in dem Moment als er an der Eckbar vorüber humpelte, öffnete sich die Tür. Die Fenster der Bar waren mit schwarzer Folie zugeklebt. Auf einer Scheibe posierte das Bild einer Frau, die nur mit Slip und BH bekleidet, sie stemmte die Hände in die Hüften, hielt den Kopf schief und blickte verführerisch auf die Passanten.

Was müssen das für Männer sein, dachte Martha, die in solche Bars gehen, und was für Frauen arbeiten dort?

Ein Arm streckte sich aus dem Spalte, die Finger gespreizt, die Handfläche nach oben, als prüfe jemand, ob es regne. Die Hand wurde zurückgezogen. Eine Frau trat aus der Bar auf den Gehsteig. Sie löste das Band, das die schwarzen Haare zusammenhielt, legte den Kopf in den Nacken, fuhr mit Finger durch die Strähnen, schwarze glänzende Strähnen, die bis zu den Kniekehlen flossen, dunkles Wasser, das aus einer Quelle sprudelt. Ein Koreanerin oder eine Japanerin. Die Frau blickte nach beiden Seiten, während sie ihre Strickjacke zuknöpfte, sonst trug sie nur eine hautenge Jeans und Espandrillos, kein Schmuck, sie war ungeschminkt, drehte den Kopf zur Straße und auf einmal trafen sich ihre Blicke.

Obwohl die Musik noch immer aus den Lautsprecher dröhnte, schien es viel stiller im Wagen zu werden. Martha nahm eine Hand vom Lenkrad. Die Frau an der Straße, legte den Kopf zur Seite, hob die Mundwinkel zu einem Lächeln, dann eine Hand, zupfte mit den Finger einen Gruß aus der Luft, der wie eine unsichtbare Feder über den Gehsteig schwebte. Martha winkte schüchtern.

Dann hörte sie das Hupen der Wagen hinter ihr. Der rote Polo fuhr an ihr vorbei. Die Fahrerin zeigte Martha einen Vogel. Der alte Mann mit den Plastiktüten verschwand in einer Seitengasse. Martha trat auf die Kupplung, würgte beinah den Motor ab und schaffte es gerade noch bei gelb über die Kreuzung. Sie sah mehr in den Rückspiegel als nach vorn.

11
Nov
2007

Martha will ein iPhone

Ein feuchter Wind blies durch die Schildergasse. Martha klappte den Kragen ihres Mantels hoch, presste die Hände in die Taschen und stellte sich in die Reihe der Leute, die vor dem T-Punkt warteten. Sie schaute auf ihre Armbanduhr: 23:45, noch eine viertel Stunde bis der Laden öffnete, dann endlich hätte das lange Warten ein Ende. Der Asphalt glänzte im Schein der Straßenlaternen und dem Licht, das aus den Schaufenstern der Nachbargeschäfte fiel, vor denen natürlich keine Menschenmenge stand. Nur ein paar Schaulustige steckten die Köpfe zusammen und lästerten über die Leute, die bei so einem ungemütlichen Wetter kurz vor Mitternacht vor einem T-Punkt ausharrten, nur um ein Telefon zu kaufen. Journalisten und Kamerateams drängelten sich durch die Gruppe, um vom Verkaufsstart es iPhones in Deutschland zu berichten

Noch zehn Minuten, dann endlich würde auch sie eines kaufen können. Das coolste Mobilfunktelefon aller Zeiten. Sie spürte, wie sich bei diesem Gedanken ein verklärter Ausdruck über ihr Gesicht legte, den sie nur zu gut kannte. Mit diesem Lächeln sprachen alle Apple-Begeisterten, wenn sie von ihrem Panther, Tiger oder Leoparden schwärmten.

„Du willst dir das Ding also wirklich kaufen?“, hatte Lutz gefragt und verständnislos den Kopf geschüttelt, als sie sich an diesem Abend auf dem Weg machte. „Du bist verrrückt!“

Als Martha um kurz nach Mitternacht den T-Punkt betrat, dachte sie wieder an die Argumente, die Lutz aufgezählt hatte. Brauchte sie das iPhone so dringend, dass es sich lohnte die nächsten zwei Jahre jeden Monat mindestens 49,-- € Grundgebühr zu zahlen? Natürlich war der Tarif teuer. Und wenn sie ehrlich war, brauchte sie das iPhone nicht. Bisher hatte sie die Möglichkeit, das Internet in ihrer Handtasche mit sich herumtragen zu können, nicht vermisst. Im Durchschnitt bekam sie pro Tag drei oder vier Emails, die selten so dringend waren, dass sie permanenten Zugriff auf ihr Emailkonto benötigte. Beim iPhone ging es nicht um dessen Notwendigkeit sondern um dessen Eleganz und konzeptionelle Schlichtheit. Es kam mit einem einzigen Bedienknopf aus, dessen Funktionalität allein darin bestand, aus jedem beliebigen Zustand zurück zum Startbildschirm zu gelangen. Verglichen damit war ihr Nokia 6230i und jedes andere Mobilfunktelefon ein grob zurecht geschliefener Faustkeil. Die Frage war nicht, ob sie es brauchte sondern ob sie es haben wollte. Ja, sie wollte es haben!

Sie erinnerte sich an ihre Reaktion als sie vor einigen Monaten Steve Jobs Präsentation des iPhones sah. Schon damals war sie begeistert gewesen. Seitdem verfolgte sie jede Meldung im Internet, wann und bei welchem Provider des iPhone in Deutschland erhältlich sein würde. Als dann die ersten Gerüchte der iPhone-Tarife von T-Mobile kursierten, war sie enttäuscht, weil sie sich die nicht leisten konnte. Nachdem sie die ersten Analysen der Tarife gelesen hatte, nach denen diese verglichen mit ähnlichen Tarifen anderer Provider durchaus fair seien, ebbte ihre Enttäuschung über Apple und T-Mobile für ein paar Stunden ab. Dann mussten die Tarife wohl so teuer sein, wenn das selbst der Redakteur von Spiegel-Online schrieb. Aber ihre Enttäuschung kehrte bald zurück. Nein, darum ging es doch gar nicht. Es ging einfach nur darum, dass Martha das iPhone haben wollte, weil sein Design und seine Funktionalität sie irgendwie ansprachen. Sie besass ein MacBook und einen iPod. Sie bereute keinen Cent, den sie dafür bezahlt hatte, obwohl Apple-Produkte teurer waren als vergleichbare Geräte anderer Hersteller. Sie war auch bereit den Preis des iPhones zu zahlen. Aber sie sah nicht ein, weshalb sie zusätzlich eine monatliche Mindestensgebühr zahlen sollte, nur um das iPhone besitzen zu dürfen. Warum durfte sie das iPhone nicht mit ihrem jetzigen Tarif nutzen? Natürlich war es für diesen überdimensioniert. Sie brauchte kein Visual-Voice-Mail, sie brauchte das Internet nicht in ihrer Handtasche, sie musste nicht im WiFi-iTunes-Store Musik kaufen. Sie wollte mit dem iPhone nur telefonieren, Musik hören, Fotos und Videos gucken, das alles in einem einzigen coolen Gerät. Sie wollte das iPhone einfach nur genießen.

Sie stand vor einem Stapel mit iPhones-Karton. Eine Mitarbeiterin des T-Punktes bot ihr einen Kaffee an, sie lehnte dankend ab. Ihre Füße froren. Sie nahm eine Karton vom Stapel, ihre Hände zitterten, sie schaute zur Kasse und spürte wieder die Wut und Enttäuschung, wie vorhin als sie sich mit Lutz wegen des iPhones gestritten hatte.

„Das verstehst du nicht!“, hatte sie geschrien und war aus der Wohnung gestürmt.

Sie bereute, dass sie ihre Enttäuschung über Apples Vermarktungsstrategie für das iPhone an Lutz ausgelassen hatte; diese Strategie die so gar nicht zu ihrem bisherigen Bild von Apple passte, die ihr so kalt und berechnend schien.

„Hey, Martha!“

Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich um. Lutz Blick traf sie so überraschend, dass sie zuckte und einen Schritt zurück machte. Seine Hände steckten in den Taschen seines Duffle Coat, um den Hals hatte er den Schal gewickelt, den sie ihm gestrickt hatte.

„Du brauchst kein iPhone, um cool zu sein“, sagte er ruhig. „Für mich bist du die coolste Frau der Welt!“

Martha legte den Karton zurück und lächelte.

21
Aug
2007

ZEIT-Schnipsel

Ihr Platz war besetzt! Frau Bönschuber stand in der Tür des Busses und starrte auf die erste Sitzreihe. Sie stellte die Tüte mit den Deutschklausuren ab, griff mit zittrigen Fingern nach ihrer Brille, die an einer Kette um ihren Hals hing, und schob das Gestell auf die Nase. Auf ihrem Platz am Fenster saß ein kleiner, dicker Mann, der in schwarz gekleidet war, eine Melone auf dem Kopf trug und wegen seines weißen Gesichtes einer aufgeschnittenen Kokosnuss ähnelte. Was für eine lächerliche Erscheinung, dachte Frau Bönschuber.

"Nun, machen Sie 'mal hin!", drängelte der Fahrer, "andere Leute wollen auch noch einsteigen."

Frau Bönschuber drehte den Kopf zur Seite, streckte die Nase in Höhe und blickte mit zusammengepressten Lippen auf den Fahrer herab, dass dieser wie einer ihrer Schüler rot wurde, dann ging sie ohne das Haupt zu senken zu ihrem Platz. Der Sitz neben dem Fettwanst war frei; aber hier ging es ums Prinzip. Seit Jahren fuhr sie mit der Linie 76 zum Gymnasium, immer war der Platz für sie reserviert gewesen. Wenn sie ihn sich jetzt nehmen ließ, wer würde morgen dort sitzen? Ein schwitzender Arbeiter auf dem Heimweg von der Nachschicht? Bei diesem Gedanken lief ein Schaudern ihren Rücken hinunter. Frau Bönschuber richtete sich neben dem freien Platz auf und räusperte sich.

"Oh, entschuldigen Sie", sagte der Mann und nahm seine Aktentasche, die er neben sich abgelegt hatte, auf seinen Schoß, "Ist das nicht ein wunderschöner Morgen!"

In diesem Moment fuhr der Bus an und wegen der Trägheit ihrer Masse verlor Frau Bönschuber die Balance und glitt gerade noch auf den freien Platz, bevor sie auf den Gang stürzte.

"Alles in Ordnung?", lächelte der Mann neben ihr.

Was erlaubte sich dieser Kerl? Erst raubte er ihr den Platz, jetzt war er auch noch höflich, so dass Frau Bönschuber nett zu ihm sein musste. Sie quetschte ein Lächeln durch ihre Lippen, wandte sich ab, schnaubte und sann nach Rache. Da fiel ihr die ZEIT ein, die zwischen den Klausuren steckte. Es gab nur zwei Arten, wie man die ZEIT lesen konnte: entweder man spannte die Seiten vor sich auf oder man faltete die Artikel zu handlicher Größe zusammen. Frau Bönschuber zog die aktuelle Ausgabe aus der Tüte, wählte die erste Variante und, als sie das Feuilleton aufschlug, streckte sie eine Hand vor das Gesicht ihres Nachbarn. Das hatte er nun davon. Wenn er schon auf ihrem Platz saß, durfte er keine Freude daran haben. Aber er ließ sich nicht stören. Bald erlahmten ihre Arme und die Fahrbewegungen des Bus zerknitterten die Seiten.

"Gnädige Frau, darf ich ihnen behilflich sein?" fragte der Dicke.

"Wobei könnten sie mir denn helfen?", fauchte Frau Bönschuber und erschrak, weil sie die Beherrschung verloren hatte.

"So kann man die ZEIT nicht lesen." sagte er und kramte eine Schere aus seiner Aktentasche.

"Gestatten sie?"

Er wartete einen Moment, dann nahm er ihr die Seiten aus der Hand, falte sie zusammen und schnitt entlang der Faltung.

"Was machen sie da? Sie können doch die ZEIT nicht zerschneiden"

"Mit dieser Schere", antwortete der Mann, "kann ich jede Zeitung zerschneiden. Vor der erschreckt sogar die Samstagsausgabe der FAZ."

Er machte eine Pause, während der er die halben Seiten sortierte.

"Aber die ZEIT ist natürlich ein ganz besonders störrisches Individuum", fuhr er fort, "Man kann sie durchaus mit dem Scheinriesen Tur Tur vergleichen."

"Mit wem?"

Wie betäubt sah Frau Bönschuber dem Treiben des Mannes zu und sie überlegte, ob sie ihre liberalen Grundsätze, ihre Überzeugung, dass nur Gewaltlosigkeit die Welt vor dem Untergang retten könne, aufgeben sollte und stattdessen dem Kerl die Schere entreißen und ihm ins Herz stoßen sollte, um ihre ZEIT, ja um die ZEIT an sich zu retten.

"Der Scheinriese Tur Tur, der in der Ferne riesig erscheint und beim Näherkommen schrumpft. Haben sie etwa Jim Knopf nicht gelesen?", fragte der Mann und zerschnitt die Seiten zuerst längs und dann quer, so dass er jede Doppelseite in acht Blätter zerteilt hatte.

"Gute Frau! Sie müssen die ZEIT einmal beobachten, wenn sie am Kiosk zwischen den anderen Zeitungen steckt. Mit ihrem Format und dem protzigen Titel plustert sie sich auf, als sei sie ein Gigant des Journalismus. Wenn man sie dann in den Händen hält und unter der Last des Pseudoliberalismus ihrer aufgedonnerten Artikel zusammenbricht, dann hat sie einen schon so gut wie gefangen."

Der Mann sortierte die Blätter nach einem, wie es Frau Bönschuber schien, willkürlichen Prinzip.

"Aber die ZEIT ist eine Fackel des Liberalismus!", Frau Bönschuber fühlte sich berufen das einfältige Geschwätz zu beenden, sie gierte nach der Schere. "Auch in Zeiten, in denen andere Blätter sich dem Zeitgeist anbiedern, bleibt die ZEIT ihren Prinzipien treu."

"Ja, ihren Prinzipien bleibt sie treu: Nämlich ihre Leser einzuschläfern, sie abhängig zu machen. Man gewöhnt sich an sie wie an schlechten Rotwein. Wenn man sie einmal gelesen hat, hängt man an ihr wie ein Fixer an der Nadel. Auch sie sind so ein Opfer."

Frau Bönschuber griff nach der Schere, die der Mann zwischen die Sitze geklemmt hatte; aber er packte ihre Hand, als sie zu ihrem Stoß ausholte, entriss Frau Bönschuber die Schere und steckte sie zurück in seinen Aktenkoffer.

"Sie Schuft! Sie Ungeheuer!" schrie Frau Bönschuber, so dass einige Fahrgäste sich umdrehten und sie aufforderten gefälligst ruhig zu sein.

"Ausserdem bin ich überzeugt, dass die ZEIT sich mit den Philologen verschworen hat, damit Deutschlehrer ihre Leistungskurse mit verworrenen Artikeln quälen können."

Trotz seiner Leibesfülle schlängelte sich der Mann an ihr vorbei, ohne dass sie ihm seine Aktentasche entreißen konnte. Er reichte Frau Bönschuber die zerteilten Seiten.

"Seien sie mir dankbar, dass ich den Scheinriesen für sie auf seine wahre Größe reduziert habe", sagte er, als er den Haltewunschknopf drückte, "Nur wenn sie die ZEIT in diesem Format lesen, können sie das Kleinkarierte in den Artikeln erkennen."

Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle. Bevor der Mann ausstieg, reichte er ihr einen zusammengefalteten Zettel.

"Hier die Leseanleitung, sie sagt ihnen in welcher Reihenfolge sie die Blätter lesen müssen."

Der Mann trat auf den Bürgersteig. Der Bus fuhr weiter. Als sich Frau Bönschuber nach ihm umdrehte, grinste er und lüpfte die Melone zum Gruß. Sie faltete den Zettel auseinander: Er war leer.

3
Aug
2007

Die alte Maus

Es war einmal eine alte Maus, die hockte am Rand eines Blumenbeetes im Schatten eines Busches. Sie streckte die Nase in die Luft, roch den Sommer, der nun doch noch endlich gekommen war, nachdem es wochenlang nur geregnet hatte. Ein Schmetterling flog an ihrem Versteckt vorbei. Die Sonne stand hoch am Himmel. Sie war froh, dass heute die Sonne schien. Ein schöner Tag dachte sie, so hatte sie es sich immer gewünscht. Sie war eine große fette braune Maus, durch ihr Fell zogen sich nur wenige graue Strähnen. Sie überlegt, ob sie sich jetzt schon in die Sonne legen sollte, sie fühlte in sich hinein. Nein noch war es nicht so weit. Wenn sie jetzt auf den Asphalt legte, wäre die Gefahr, dass sie doch gefressen würde, zu gross. Sie erinnerte sich an ihre Geschwister, alle waren sie längst Beute eines Raubtiers geworden. Die kleine Schwester war gleich am ersten Tag nach ihrer Geburt, als sie sich aus der Höhle trauten, um die Wiese zu erkunden, von einem Fuchs verschlungen wurden. Die Maus seufzte. So war das eben, als Maus. Mäuse sind zum Fressen da. Lautet der erste Satz, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Der Tod gehörte von Anfang zum Leben dazu. Immer war sie auf der Hut gewesen, hatte vorsichtig geschnuppert und gehorcht, bevor sie sich aus ihrer Höhle wagte. Einmal hatte sie stundenlang im Eingang ihres Loches gehockt, obwohl damals ein noch schöner Sommertag als heute war und obwohl über die Wiese ein verführerischer Duft nach Käse und Speck strömte. Die ganze Zeit starrte sie zum Himmel, ein Mäusebussard kreiste über der Wiese. Sie träumte von dem Käse und dem Speck. Endlich verlor der Raubvogel die Geduld und gleite zu den Wiesen jenseits des Waldes, um dort nach Beute zu spähen. Die Sonne hing inzwischen tief über den Horizont. Dann erst hatte sich die Maus damals herausgetraut aus ihrem Loch.

Die Eingangstür des Bürogebäudes öffnet sich. Die Maus verkroch sich im Gebüsch. Menschen war gefährlich. Von dieser Frau, die über den Hof zu ihrem Wagen ging, hatte die Maus wenig zu befürchten, den die Frau humpelt und zog ein Bein nach. Ihre Schuhe schlurften über den Boden. Ein Geräusch, dass in den empfindlich Ohren der Maus unangenehm war. Trotz ihres Alters war, konnte sie noch immer so gut hören wie als sie noch ein junges Mäuschen war. Nur ihre Beinchen waren nicht mehr so kräftig. Wenn sie über die Wiesen schlich, schmerzten die Gelenke, weshalb sie nur noch selten nach Nahrung suchte. Wenn sie während der letzten Tage hungrig in ihrem Loch eingerollt hatte, betete sie jedes Mal, der Sommer rechtzeitig kommen möge.

Die Frau hatte ihren Wagen erreicht und fuhr davon. Die alte Maus kroch an den Rand des Gebüsches. Sie spürte, dass ihre Zeit gekommen war. Sie spähte zum Himmel: Kein Raubvogel in Sicht, keine Krähe, die sich oft um diese Tageszeit hier herumtrieben. Hunde hatte sie nicht zu fürchten, die kamen erst später am Nachmittag mit den Spaziergänger. Katzen streunten hier selten herum, weil das Bürogebäude abseits der nächsten Siedlung lag. Sie konnte es wagen. Jetzt oder nie! Die alte Maus kroch aus dem Gebüsch hervor. Sie atmetet tief ein, sie spürte einen Stich in der Seite, sie hustete. Langsam kroch sie aus dem Schatten in die Sonne. Ihre Muskeln begannen zu zittern, ihre Kräfte schwanden. Sie streckte die Beine aus, ließ sich auf die warmen Steine sinken. Sie spitzte die Ohren, als sie den Schrei eines Bussards hörte, aber der entfernte sich. Sie schloss die Augen, erinnerte sich an den Duften von Käse, den Geschmack von reifen Erdbeeren, hörte das Laub über ihrer Winterhöhle rascheln. So hatte sich es sich immer gewünscht, im Sonnenschein, einmal tief Luft holte sie Luft, atmete langsam für immer aus.

30
Mai
2007

Zwei Tauben

Martha schnaubte, als sie den BMW sah, der an der schmallsten Stellen der Auffahrt zum Firmenparkplatz stand und den Zugang zum Gebäude versperrte. Sie bremste und fuhr langsam zu ihrem Parkplatz. Siekannte die genaue Typbezeichung des Wagens nicht. Aus dem Kennzeichen schloss sie, dass es sich um einen Firmawagen handelte, denn ihr Arbeitgeber hatte sich alle Kennzeichen mit einer bestimmter Buchstabenkombination reservieren lassen. Wieviel das wohl kostet hatte? Als ob die Firma nicht schon genung Geld zum Fenster hinauswarf. Der Fahrer des Wagens starrte geradeaus, als sie ihren Kleinwagen an der Nobellimousine vorbeisteuerte. In ihrem Nissan Micra als sie sich vor, als flöge sie mit einem Propellerflugzeug an einem Airbus 380 vorbei. Hoffentlich rammte sie den BMW, dachte sie, als der BMW an der Beifahrerseite vorüber glitt. Die Fahrer solcher Autos waren besonders empfindlich, wenn es um Kratzer im Lack ging, selbst wenn sie kaum breiter als ein Haar waren.

Matha kurbelte die Scheibe der Fahrertür herunter, um zu gucken, wie viel Platz sie zum Ausweichen hatte, und entdeckte eine Taube, die mit aufgeplustertem Gefieder kaum eine Schnabellänge entfernt auf dem Asphalt hockte. Die Farbe des Vogels ähnelte der Farbe des BMW. Im Nacken schimmerten die Feder in einem Blauton, der an die Farbe der Jacke des Fahrer erinnerte. Sie spähte über ihre Schulter zu dem Mann. der noch immer regungslos auf sein Lenkrad sass. Sie schmunzelte, wie sehr der Mann und die Taube einander ähnelten. Während sie ihren Wagen einparkte, stellte sie sich vor, wie zuerst die Taube aufflog und dann der BMW seine metallenen Flügel spannte, um dem Vogel zu folgen. Als sie sich an dem BMW vorbei zwängte, sah sie dem Fahrer für einen Moment in die Augen, sie musste sich auf die Zunge beißen, um nicht los zu prusten.

4
Feb
2007

Nero

gesehen im Park des alten Klinikum in Aachen am 4. Februar 2007

"Kommt Nero in den Himmel?"

Tim nahm den Deckel von der Kiste, in die sein Vater den toten Welpen gelegt hatte, und streichelte das Tier.

"Nein!", sagte Tims große Schwester Nina, die hinter ihrem Vater stand und an einem Lutscher leckte. "Nur Menschen kommen in den Himmel, Tiere nicht."

"Er kommt in den Tierhimmel", sagte der Vater und trat den Spaten, den er mitgebracht hatte, in den Rasen. Nach wenigen Stichen war das Loch groß genug für die Kiste.

"Es gibt ja gar keinen Tierhimmel.", sagte Nina.

"So, so, meine neunmalkluge Prinzessin", der Vater stupste seiner Tochter mit der Hand auf die Nase. "Und woher weist du das?"

Nina grinste. Tim klopfte mit einer kleinen Schaufel den Rand und den Boden des Lochs fest, dann deckte er die Kister wieder zu und half seinem Vater sie in das Loch zu legen.

"Es gibt keinen Tierhimmel", beharrte Nina, "weil dann ja Hunde und Katzen in denselben Himmel kämen. Die Hunde müssten dann ständig die Katzen jagen und die Katzen immer vor den Hunden davon laufen."

"Daran habe ich gar nicht gedacht." Der Vater kratzte sich am Kopf, nachdem er ein Schaufel Erde auf die Kiste geschüttet hatte. "Das gäbe da oben natürlich ein großes Durcheinander."

"Und stell die den Tumult erst vor", fuhr Nina fort, "wenn auch noch Löwen und Zebras in den Tierhimmel kommen."

"Aber ein toter Löwe muss doch keine Zebras mehr fressen." Tim hatte verstanden, was seine Schwester meinte.

"Aber jagen muss er sie trotzdem" erwiderte Nina. "Irgendwie muss der Löwe sich ja die Zeit vertreiben. Sonst würde er sich doch zu Tode langweilen."

"Also was wird nun aus Nero?" Tim rammte das Holzkreuz, das er mit seiner Mutter gebastelt hatte, über der Stelle in den Boden, wo sie Nero begraben hatten.

"Dann muss er wohl in den Hundehimmel kommen." Der Vater zwinkerte seiner Tochter zu. Nina hielt sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut los zu lachen.

"Im Hundehimmel wird es Nero bestimmt gefallen." Tim hängte den kleinen Stoffhund, der Neros Lieblingsspielzeug gewesen war, an das Kreuz. "Da kann er mit den anderen Hunden spielen. Vielleicht trifft er da auch seinen Großvater."

"Vielleicht", schmunzelte der Vater.

Auf dem Rückweg nach Hause, ging Tim vor seinem Vater und seiner Schwester her und erzählte, wie er sich den Hundehimmel vorstellte.

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