Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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6
Nov
2006

Die tote Katze VI

n

„Hier nimm erst mal einen Kaffee“, Claudia Borger drehte eine Thermoskanne auf und füllte einen Pappbecher, den sie Schröter reichte. Sie lehnte sich gegen den Zaun, der das Grundstück des Mordopfers von der Straße trennte. Sie steckte sich eine Zigarrette und hielt ihrem Kollegen die Schachtel hin.

„Danke“, Schröter nahm ihr den Becher ab. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht rauche.“

„Es gibt Momente in den solltet ihr Nichtraucher, euch ruhig verführen lassen.“ Borger blies Schröter den Rauch ins Gesicht. „Glaub mir in Situationen wie dieser ist eine gute Malboro oder eine Gaolois das einzige, was hilft.“

„Dir vielleicht, aber nicht mir.“ Der Kommissar spuckte auf den Bürgersteig.

„Jetzt sag nicht, dieser grauenvolle Kaffee hätte dir die Erleuchtung gegeben, wie wir den Fall angehen.“ Borger schnippte die Kippe in den Rinnstein und zog eine weitere Zigarette aus der Packung.

„Da brauch ich keine Erleuchtung.“ Schröter nahm einen Schluck aus dem Becher. „Wir gehen vor wie immer.“

„Also erst mal Zeugen befragen!“

„Ja, natürlich“

„Kein sehr kreativer Ansatz“, Borger zog an der Zigarette. „Ich mein, wenn man die Umstände berücksichtigt.“

„Was soll das denn heißen?“ Schröter musterte seine Kolleging.

„Hier stimmt was nicht. Das ist kein gewöhnlicher Mordfall.“

„Du wiederholst dich.“ Schröter nippte an seinem Kaffee „Kannst du mir sagen, was ein gewöhnlicher Mordfall ist. Für mich ist jeder Mord ungewöhnlich. Allein schon die Tatsache das jemand erstochen, erschossen, vergiftet oder was auch immer wurde. Ein Mord ist nie gewöhnlich.“

„Hast du heute wieder einen deiner gefürchteten Anfälle von Moral?“ Borger blies eine Rauchring. „Seitdem wir zusammen arbeiten, wundere ich immer wieder über diese Anfälle. Du machst diesen Job jetzt mindestens doppelt so lange wie ich. Das solltest du doch inzwischen eingesehen haben, dass es so was wie Moral nicht gibt.“

Schröter hatte keine Lust sich auf diese Diskussion mit seiner Kollegin einzulassen. Er betrachte die junge Frau aus den Augenwinkel heraus, während er mit einem Fuß eine Walnuss hin- und herdrehte und so tat als gäbe es im Moment keine interessantere Tätigkeit auf der Welt. Borger hatte ihr blondes Haar an diesem Morgen zu einem Dutt hoch gesteckt, den sie zwei Holzstäbchen fixiert hatte. Zusammen mit den schmalen, stets zusammengekniffenen Augen gab die Frisur Borger ein wenig das Aussehen einer Geisha. Sie müsste jetzt nur noch die Haare schwarz färben. Vielleicht war das ja ihre natürlich Haarfarbe, bei Frauen wusste man ja nie. Schröter versuchte sich vorzustellen, womit Borger natürlicher wirkte mit blond oder mit schwarz. Plötzlich musste er an Isabel denken, sie hatte gestern Abend angerufen, ob sie heute gemeinsam früh stücken wollten. Da wurde ja jetzt nichts. Er dachte in letzter Zeit immer häufiger und unvermittelter an Isabel. Sie kannten sich seit ein paar Wochen. Er hatte sie im Internet in einem Chat-Room kennen gelernt, in dem er eines Abends nur Neugier hinein gesurft war. Sie hatten sich eine Stunde nett über klassische Musik unterhalten, was eigentlich bisher nicht sein Spezialgebiet gewesen, aber seitdem er die Klassik-Edition der ZEIT bestellt hatte, hörte öfter Sinfonie-Konzerte. Isabel hatte sich die ZEIT-Edition auch gekauft und so waren sie ins Gespräch gekommen. Sie schlief jetzt sicher noch. Als er vorhin bei ihr angerufen hatte, um das Treffen mit ihr abzusagen, war nur ihr Anrufbeantworter dran gegangen, was ihn beruhigte, denn er wollte sie wegen der Absage nicht aus dem Schlaf klingeln.

„Ich hab' keine Lust mich mit dir so früh über Moral zu streiten.“ Schröter stürzte den Rest Kaffee hinunter, der noch in seinem Becher war. „Lass uns weiter machen.“

„Wie du willst.“ Borger ging zu dem Wagen, mit dem sie gekommen waren, und warf die Thermoskanne hinein.

Schröter schlug den Kragen seines Mantels hoch und sah die zu beiden Seiten die Straßen hinunter. Die Rollläden in dem Haus, das links von dem Tatort lag, waren herunter gelassen. Vermutlich waren die Besitzer verreist. In dem Haus rechts neben dem Tatort brannte noch keine Licht und alle Gardinen waren zugezogen.

„Wir fragen zunächst mal den Nachbarn von gegenüber.“

Schröter zeigte auf das Haus das auf der anderen Straßenseite. Im Erdgeschoss war einige Fenster erleuchtet, und Schröter glaube, dass von Zeit zu Zeit eine Gestalt hinter den Gardinen nach draußen guckte. Borger folgte dem Kommissar, als dieser die Straße überquerte. Das Haus hatte keine Vorgarten sondern grenzte direkt an den Bügersteig an. Über der Klingel prangte nur ein Schild auf dem J. Zeman in einer verschnörkelten Schreibschrift gestrieben stand. Borger klingelte. Nach einer Weile hörten sie Schritte hinter der Tür schlurfen, dann knackende Geräusche als jemand die Tür aufschloss. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Ein Kettchen spannte sich zwischen Angel und Schloss. Eine alte Frau sah sie misstrauisch an.

„Guten Morgen, bitte entschuldigen sie die frühe Störung.“ Schröter zog seinen Dienstausweis hevor und zeigte ihn der Frau. „Ich bin Hauptkommissar Schröter, dies ist meine Kollegin Frau Borger. Dürften wir ein paar Fragen stellen?“

„Warum?“ Die Frau setzte eine Hornbrille auf, die sie an einer Kette um den Hals trug.

„In dem Haus gegenüber wurde eine Leiche gefunden.“

„Ja, mei, in dem Haus von dem Scheinemann. Ist dem was passiert.“

„Das können wir noch nicht sagen“, antwortete Schröter. „Wir wissen noch nicht, wer der Tote ist. Dürften wir hereinkommen und ihnen ein Foto von dem Toten zeigen.“

„Wenn's unbedingt sein.“ Die Alte nickte. „Wartens ish muss mir erst noch ha woas andres anziehen.“

Die Tür fiel wieder ins Schloss. Schröter hob die Augenbrauen und sah Borger an, die mit den Schultern zuckte. Ein paar Minuten später öffnete die Frau die Tür. Sie trug eine blaurot karierte Schürze, einen grünen Wollrock und eine rosa Rollkragenpullover. Ihr Gesicht war gerötet und aufgeschwommen.

„Kommens herein“, lud die Frau sei ein. „Darf ich ihnen einen Tee anbieten. Hab' ihn grad auf gesetzt. Assam, beste Qualiät, oder darfs ...“

„Nein, danke“, unterbrach Schröter die Frau.

„Wie sie meinen.“ Die Frau führte sie den Flur, der bis auf einem paar Winterstiefel und einer Garderobe, an der ein beigefarbener Pelzmantel hing leer war, entlang in die Küche.

„Bitte, nehmen sie Platz.“ Frau zeigte auf zwei Holzstühle, die unter dem Fenster standen, und setzte sich auf eine Bank gegenüber.

„Nein, danke, wir ...“

„Nun seins nicht so gemütlich“, unterbrach die alter Borger. „Isch hab' sie schoan a Weil beobachtet, wie sie da drüber an der Straße standen.“

„Dann haben sie sicher auch Streifenwagen gesehen? Frau ... entschuldigung, wie heißen sie?“, fragte Schröter.

„Zeman heiß ich, Juliana Zeman, steht doch auf mei Klingelschild. Habens des nit g'lesen? Klar, hab' isch g'sehen, wie die angedüst kame“, antwortete die Alte. „Bin ja schon seit halb fünfe wach. Wegen meiner Schmerze im Kreuz kann ich nit lang schlafe.“

Schröter warf Borger einen vielsagenden Blick zu und zog eine Digitalkamera hervor. Er schlate das Bild des Toten auf das Display und zeigte es der Frau.

„Kennen sie den Mann?“

„Ja, desch isch der Scheinemann.“ Die Frau tippte mit einem Finger auf das Display. „Dem g'hört 's Haus gegenüber. Was ich los? Ischa tot?“

„Herr Scheinemann wurde heute früh tot in seinem Haus aufgefunden“, berichtete Borger. „Wieso vermuteten sie das er tot sein könnte.“

„Ja, was denkns denn vor mir.“ sagte die Frau. „Ich mag zwar alt sein, aber blind bin isch nit. Das sieht man doch auf den ersten Blick, dass der nit mehr lebendig ist.“

„Also, schön“, manchmal wunderte sich Schörter, was für dumme Fragen Borger stellen konnte.

„Was is' mit seina Katze?“, fragte die Frau. „Hat's die auch erwischt?“

„Wieso fragen sie nach der Katze?“, wunderte sich Borger.

„Weil das ein ganz falsches Biest ist. Deshalb. Jedes Mal, wenn ich da vorüber gegangen bin, hat sie mich angefaucht. Und nicht nur mich. Jeden, sag ich ihnen, jeden hat die angefaucht.“

„Die Katze ist tatsächlich auch tot“, bestätigte Borger.

„Wenigstens eine gute Nachricht.“ Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und wippte vor und zurück.“

„Wie meinen sie das?“, fragte Schröter.

„Ich hab's ihnen doch schon gesagt. Ein widerliches Vieh war das. Jeder hier aus der Nachbarschaft wird ihnen das bestätigen.“ Die Frau pochte mit einem Finger auf den Tisch. „Aber um den Scheinemann ist's schad, wirklich schad ist's um den. Ein ganz netter Mann isch, verzeihung war der. Wie ist er denn g'storbe.“

„Herr Scheinemann wurde erstochen.“ Schröter setzte sich jetzt doch auf einen der Stühle. „Kannten sie ihn gut? Hatten sie viel Kontakt mit ihm?“

„Nein, der lebte ganz für sich. Aber ein höflicher Mann war er. Hat mich immer gegrüßt und sich erkundigt, wie's mir geht. Ein ganz höflicher Mann war der, is wirklich schad um ihn.“

„Sie sagten, sie wären schon um halb fünf wach gewesen“ Schröter schlug sein Notizbuch auf. „Haben sie vielleicht etwas beobachtet? Ist Ihnen was aufgefallen?“

Die Frau überlegt einen Moment.

„Als ich gegen fünf Uhr in die Küche ging, um mir Tee aufzusetzen, brannte drüben in allen Zimmern Licht. Das wunderte mich, weil der Scheinemann sonst nie so früh aus den Federn kommt. Normaler weise gehen bei dem nicht vor acht die Lichter an. Und ich habe einen Schatten hinter den Vorhängen gesehen.“

„Was war das für ein Schatten.“

„Ein Mensch wars, so genau hab' ich das nicht gesehen. Eine Frau vermutlich“

„Wieso vermuten sie, dass es eine Frau war?“

„Die Person hatte ein Pferdeschanz.“ Die Frau fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „So hatte sich die Haare zusammengebunden, mit nem Gummi oder so was. Muss ne Frau g'wesen sein. Ein Mann hat nicht so ne Frisur.“

„Es gibt heute auch Männer mit Pferdeschwanz“, entgegnete Borger. „Was macht sie so sicher, dass es eine Frau.“

„Die Figur, die Haare“ Die Frau schwang ihren Arm vorm Körper her. „Die war so schlank und zart gebaut, das muss eine Frau gewesen sein.“

„Könnte es nicht auch Herr Scheinmann gewesen sein?“, fragte Schröter.

„Nein, nein, der war's nicht, der isch ja viel größer und breiter gebaut g'wesen; und außerdem hat der kein Pferdeschwanz g'habt.“

„Konnten sie sehen, was die Frau in dem Haus gemacht hat.“

„Ne, ne, kann ich nix zu sagen. Denkens nit's falsches über mich. Nur weil ich a altes einsames Weib bin, heißt das nit, dass isch die ganze Zeit am Fenster hänge und meine Nachbar ausspionier'. Ich hab' nur das Licht g'sehen, als ich kurz aus dem Fenster schaute, während ich wartete, dass 's Wasser kocht.“

„Und Herrn Scheinemann habe sie zu der Zeit nicht beobachtet.“

Schröter sah sich in der Küche der Frau um. Er verspürte den unwiderstehlichen Drang zu gähnen. Er hatte noch nicht richtig gefrühstückt. Der Kaffee, den Borger ihm vorhin eingeschenkt hatte war ungenießbar gewesen. Eigentlich war er kein Teetrinker, aber aus der Teekanne, die ein paar Zentimeter von ihm entfernt auf dem Tisch stand, stieg ein verführischer Duft; ihm wurde fast schwindlig von dem würzigen Aroma, noch verlockender wirkte allerdings das zimtige Aroma von frischem Apfelkuchen. Die alte musste den Kuchen gerade erst aus dem Ofen genommen haben, denn die Ofentür war noch geöffnet, die warme Backluft schwebte durch die Küche. Das Kuchenblech lag auf dem vier Platten des Herdes, Apfelkuchen, mit Streusel und Rosinen.

„Na, da läuft ihnen, das Wasser im Mund.“, lachte die Alte schelmisch. „Darf ich ihnen ein Stück anbieten. Hab' erst kurz bevor sie geklingelt haben aus dem Ofen geholt. Ich bekomm' heut nämlich Besuch von meiner Tochter und ihren Zwillingen, ganz verrückt sind die nach meinem Apfelkuchen.“

Sie stand von der Bank auf und öffnet eine Schrank, nahm zwei Teller heraus, die sie neben den Herd abstellte, und kramte in einer Schublade nach einem Messer.

„Nein, bitte, machen sie sich keine Umstände“ Schröter bemühte sich seiner Stimme einen Klang zu geben, der einerseits höflich das Angebot ablehnte andererseits seine Ablehnung nicht zu überzeugend ausdrückte. Er liebte Apfelkuchen. Während die Frau damit beschäftigt war, den Kuchen anzuschneiden, sah er zu Borger hinüber. Sie schien nicht sehr erpicht auf ein Stück Apfelkuchen zu sein.

„Ach, reden's ka Blödsinn“, die alte schob ihm einen Teller mit einem großen Stück Kuchen zu, in dem eine Gabel steckte, und goss ihm einen Becher Tee ein. „Ich seh doch, dass sie heute Morgen noch nichts anständiges gefrühstückt. Meine Tochter guckt auch immer so hungrig, wenn man sie zu früh aus den Federn scheucht.“

Als Schröter den ersten Bissen in den Mund steckte, dachte er für einen Moment an Isabel. Er stellte sich vor, was wäre wenn diese alte Dame Isabels Mutter wäre. Möglich wäre es, auch Kinder könnte Isabel haben, danach hatte er sie noch nicht gefragt, aber immer angenommen, dass sie kinderlos wäre.

„Hier junge Dame.“ Die Alte reichte Borger einen Teller mit einem Stück Apfelkuchen drauf und eine Tasse dampfenden Tee. „Möchten sie vielleicht Milch in den Tee. Mir ist der Assam manchmal zu stark im Geschmack. Die meisten mögen ihn aber pur. Möchten sie Zucker? Und der Herr Hauptkommisasr möchten sie Zucker.“

Borger wirkte von Freundlichkeit der Alten überrumpelnd. Schröter amüsierte sich still über ihre Verlegenheit. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich weder aus Kuchen noch aus Tee viel machte. Aber ihr viel es offensichtlich schwer die alte Dame zu enttäusche, der es Vergnügen bereitet ihren unerwarteten Besuch zu bewirten. Ihr Gesicht glänzte wie ein Bratapfel.

„Meine Tochter kommt mit den Kindern erst heute Nachmittag. Langens ruhig zu. Ich hab' viel zu viel gebacken. Meine Tochter ist wie sie.“ Sie zeigte auf Borger. „Ein ganz dürres Mädel, hat nur ihre Diät im Kopf.“

„Wohnen sie hier ganz allein?“, fragte Borger, während sie die Krümel auf ihrem Teller zusammenkratzte.

„Ja, mein Mann ist vor sieben Jahren g'storben.“

Je länger er bei der Frau in der Küche saß desto sympathischer wurde sie. Sie machte nicht den Eindruck einer alten einsamen Witwe, auch wenn sie sicher war, sie schien sich viel mehr mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben.

„Vielen Dank für den Kuchen“, sagte Schröter. „aber zurück zu ihren Beobachtungen von heute früh. Herr Scheinemann haben sie nicht beobachtet.“

„Nein, nein, nur dies Mädel, das vom einem Zimmer ins andere rannte“

„Sie rannte durch die Wohnung?“, Borger stellte ihren leeren Teller in der Spüle ab. „Haben sie gesehen weshalb. Konnte sie sehen, ob sie irgendwas aus den Zimmer trug? Hat sie zwischendurch das Haus verlassen.“

„Ne, da hab' isch nichts von gesehen, kann ich ihnen nicht sagen, warum die so hektisch war. Könnt' schon sein, dass die mal draußen war, vielleicht hinten im Garten“ Die Alte zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, ich hab nur kurz aus dem Fenster geschaut, als ich mir Tee kochte. Ich wollt' ja auch mit dem Backen anfangen.“

„Ist ihnen sonst noch was aufgefallen?“ Schröter wischte sich mit einem Taschentuch den Mund ab. „Oder haben sie was gehört?“

„Nein, sonst war nichts.“ Die Frau presste die Lippen aufeinander. „Doch halt dar war noch was. Allerdings nicht heute früh, sondern gestern Abend.“

Schröter sah sie fragend an.

„Das muss so zwischen neun und zehn gewesen“, fuhr sie fort. „Ich war gerade auf die Toilette gegangen. Wenn das Toilettenfenster nicht auf kippt gestanden hätt', hätt ich's wohl nicht gehört und hätt' auch nicht nach draußen geschaut.“

„Ja, was, bitte erzählen sie weiter!“, forderte Schröter sie.

„Es schrie jemand.“

„Jemand hat geschrien?“

„Ja, nicht bloss geschrien, geflucht hat der. 'Du scheiss Kerl, Arschloch', bitte entschuldigens die Ausdrucksweise, aber so hat er sich ausgedrückt.“

„Ein Mann also, diesmal“, hakte Schröter nach.

„Ja, ein Mann war's“, sagte die alte. „Ich habe dann aus dem Fenster g'schaut und g'sehen, wie ein Mann aus dem Haus von dem Scheinemann rannte, in einen Wagen stieg und davon fuhr, die Reifen haben gequietscht, als der Gas gab.“

„Und was war mit Herr Scheinemann, haben sie den da auch gesehen.“

„Ja, hab ich. Der hat oben am Fenster g'standen, so breitbeinig mit beide Arme in die Seiten gesteckt. Als der Wagen dann fort war, ist der Scheinemann aus dem Zimmer gegangen und hat das Licht gelöscht. Mehr hab' ich dann nicht mehr gesehen, weil ich wieder zurück ins Wohnzimmer g'gange bin. Wissens im Fernsehen lief gerade meine Lieblingssendung, der Musikantenstadl.“

Die beiden Polizisten sah sich an. Schröter stand von seinem Stuhl auf, während Borger schon in der Küchentür.

„Vielen Dank, Frau Zeman, sie haben uns sehr geholfen.“ Der Hauptkommissar reichte ihr zum Abschied die Hand. „Das wäre es für erste. Wenn wir noch Fragen haben, werden wir uns bei ihnen melden.“

„Ich wüßt' nicht, was das bringen sollte. Mehr kann ich ihnen nicht sagen“, sagte Frau Zeman als sie Schröter und Borger zur Haustür führte. „Wollen sie nicht noch ein paar Stücken Kuchen mitnehmen.“

„Nein, vielen Dank, aber ihr Apfelkuchen war sehr lecker. Grüßen sie mir ihre Tochter.“, sagte Schröter noch, als sie aus dem Haus traten.

4
Nov
2006

Die tote Katze V

„Dann heißen sie also von nun an Anna.“

Anna flüsterte den Satz, den Doktor Zacharias gesagt hatte, während sie in der Fensterbank ihres Krankenzimmer hockte und nach draußen schaute. Sie hatte die Stirn gegen die Scheibe gelehnt und folgte mit einem Zeigefinger den Spuren, die die Tropfen hinterließen, während sie am Fenster herunter rannen. Der Satz klang wie eine Taufe. Einwenig kam sie sich wie ein Taufkind vor, ein Wesen ganz am Anfang seines Lebens, das soeben seinen Namen erhalten hatte, wie ein Buch das es nun mit seinen Träumen, Ängsten und Plänen voll schreiben konnte. Wie alt ist ein Kind, wenn es getauft wird? Wie alt war sie? Ihr war durchaus bewusst, das der Doktor ihr nicht glaubte, dass die Drohung sie an die Polizei zu übergeben nach wie vor über ihr schwebte wie ein Unwetter. Aus irgendeinen Grund hatte sie sich gefürchtet als Zacharias die Polizei erwähnt hatte. Wie ein spotanes Gefühl war diese Furcht über sie gekommen, so als blende sie plötzlich ein Sonnenstrahl während sie durch ein Wald spazierte. Wald auch so ein Wort, das sie als Drohung empfand.

Sie streckte beide Arme vor sich aus, spreizte die Finger. Blau. Blau lackierte Fingernägel. Warum hatte sie sich für diese Farbe entschieden. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie in ihrem Badezimmer sass, das Fläschchen Nagellack auf dem Rand des Waschbeckens stand, sie den kleinen Pinsel immer wieder hinein tunkte und ihre Nägel lackierte. Blau. Mein Badezimer, mein Waschbecken, mein Kloh, auf dem ich dabei sitze, dachte sie. Was bedeutet das? Blau. Mein Badezimmer? Waren die Kacheln in ihrem Badezimmer blau? Hing einen blaues Handtuch an dem Halter über der Badewanne? Mein Badezimmer? Sie hielt es für unmöglich, dass sie in einem anderen Zimmer ihrer Wohnung als dem Badezimmer ihre Fingernägel lackiert hatte. Natürlich, es hätte rein theoretisch auch ein anderer Raum sein können: sie hätte am Küchentisch sitzen können, während sie darauf wartete, dass der Kaffee kochte; oder im Wohnzimmer, während sie die Tagessschau sah; oder im Schlafzimmer, während sie die 2. Sinfonie von Sibelius hörte. Aber es gibt Dinge, die wusste sie, ohne dafür eine Gedächtnis zu brauchen, in dem diese Dinge als Erinnerungen abgespeichert waren. Sie würde sich die Fingernägel immer im Badezimmer lackieren; dessen war sie sich sicher. Sie. Ich. Gab es einen Unterschiede zwischen dieser Person, deren Erinnerungen sie verloren hatte, und dieser Anna, die sie nun war und deren Buch vor ihr aufgeschlagen war und darauf wartete, beschrieben zu werden. Was würde mit dieser Person geschehen, wenn sie tatsächlich damit anfinge, sich selbst als Anna zu konstruieren. Anna. Wie war sie auf diesen Namen gekommen? Warum war ihr gerade dieser Name eingefallen? War das ihr richtiger Namen, ein letzter Rest der verlorenen Erinnerungen?

Sie sah hinunter auf den Platz vor dem Krankenhaus, es wurde langsam dunkel, die Straßenlaternen waren schon angesprungen. Die Straße, die zum Eingang führte, war eine Allee gesäumt von Ahornbäumen. Der Wind strich durch die Wipfel, riss an den Blättern, die aber noch stand hielten. Sie wunderte sich, wie lange die Bäume in diesem Herbst grün blieben. Leuchtete früher nicht jede Krone im Oktober schon golden. Waren das die ersten Vorboten der globalen Klimaveränderung. Die Gedanken rauschten durch ihren Kopf. Was alles wusste sie? Bäume, die im Oktober ihr Laub verloren; globale Klimaveränderungen, die dazu führen konnten, das Küstenstädte in Fluten versanken. Woher wusste sie das alles? Hatte es irgendwas mit ihr zu tun? Gab es irgendwas, das sie denken konnte, das sie auf die Spur ihrer Vergangenheit führte.

Es hatte aufgehört zu regnen. Ein Taxi hielt vor dem Krankenhaus, der Fahrer stieg aus, um einer alten Dame aus dem Wagen zu helfen. Die Frau trug einen schwarzen Pelzmantel, ein weiten Rock und graue Stiefel. Der Fahrer reichte der Frau einen Regenschirm, der auf dem Rücksitz gelegen. Sie bedankte sich bei dem Mann und fasste den Schirm unschlüssig am Knauf an, während sie nach oben in Annas Richtung blickte, die sich einen Moment einbildete, die Frau hielt nach ihr Ausschau, aber sie schüttelte nur den Kopf und wohl nur durch einen kurzen Blick zum Himmel fest stellen wollen, ob wieder zu regnen beginnen würde. Sie ging zum Eingang und wartete dort einige Minuten. Gelegenlich schaute sie auf die Armband und ging vor der Pförtnerloge ein paar Schritte auf und ab.

Anna beobachtete die Frau neidisch. Sie schätzte ihr alter auf ungefähr siebzig, war sich aber wegen der Entfernung und der Dunkelheit nicht sicher. Die Frau strahlte eine ungeheure Selbstsicherheit, oder jedenfalls schien es Anna so. Für die Frau schien das Warten etwas normales oder langweiliges zu sein. Ganz im Gegensatz zu Anna, die das Warten in ihrem Zimmer als etwas beunruhigendes empfand. Sie wusste nicht worauf sie wartete. Sie schaute auf den Weckter, der auf ihrem Nachttisch tickte. Es war viertel nach fünf. Wenn sie sich an den gewöhnlichen Tagesablauf in einem Krankenhaus richtig erinnerte, müsste in ein paar Minuten das Abendessen verteilt werden. Für einen Moment lenkte sie der Gedanke ab, dass sie auf das Essen wartete. Es gab ihrem Warten eine Richtung, eine Sinn, und verdrängte das Gefühl ihren vorbei ziehenden Gedanken ausgeliefert zu sein. Unbewusst prüfte sie jeden Gedanken danach, welches Wissen über sie er enthielt oder er sie ein Stückchen auf dem Weg zu ihren Erinnerung leiten konnte. Als sie wieder hinunter auf den Platz blickte, umarmte die alte Frau einen jungen Mann, hakte sich bei ihrem Begleiter unter und betrat mit ihm die Eingangshalle des Hospitals. Ihr warten hatte sich gelohnt.

Anna rutsche aus der Fensterbank und setzte sich an einen schmalen Tische, der vor dem Fenster stand. Sie blätterte durch eine Frauenzeitschrift, die sie sich von einer der Schwesterschülerinnen geliehen hatte. Sie überflog die Berichte über die letzten Erlebnisse der Prominenten. Boris Becker war mit seinem jüngsten beim Einkaufsbummel in München beobachtet worden, eine unbekannte, brünette, auffällige junge Frau begleitete ihn. Die Reporterin stellte Mutmaßungen darüber an, welche Bedeutung die Frau für den Ex-Tennisprofi habe. Es beruhigte Anna, dass auch andere Leute nicht alles wussten. Die meisten Artikel überflog sie. Sie erkannte Tom Cruise, Jennifer Lopez, die Königin von Holland und ging in Gedanken die Namen ihrer Kinder durch. Irgendwann schlug sie die Illustrierte zu und warf sie in den Mülleimer. Sie hatte genug davon, sich selbst immer wieder von neuem zu beweisen, an was sie sich alles erinnern konnte, das nichts mit ihr zu tun hatte. Wo nur das Essen blieb?

Sie ging zum Waschbecken, das vom Rest des Zimmer durch einen Vorhang abgeschirmt war, ließ kaltes Wasser hinein und wusch sich das Gesicht. Vielleicht sollte sie Doktor Zacharias vorschlagen, das man sie abwechselnd mit kalten und heißen Wasser abspritzen sollte. Sie glaubte sich zu erinnern, dass solche Wechselbäder früher zum Standard in Behandlung von Geistenkranken waren. War sie das denn nicht? Verrückt, irre. Doktor Zacharias hatte behauptet, dass ihr körperlich nichts fehle, also musste sie geisteskrank sein, wie sonst war ihr Gedächtnisverlust zu erklären. Da kam ihr ein Gedanke: Vielleicht hatte der Arzt etwas übersehen, als er sie untersuchte, vielleicht hatte sie doch irgendeine Verletzung, die als Ursache für ihren Zustand dienen konnte?

Sie lief zum Fenster und zog die Vorhänge zu, dann begann sie sich auszuziehen. Wahllos verteilte sie die Kleidungsstücke in dem Zimmer. Die Schuhe schleuderte sie unter den Tisch, die Socken landeten in dem Wasser im Waschbecken, den Rock warf sie über den Stuhl. Als sie den Knoten der Bluse löste, riss einen Knopf ab, der unter das Bett kullerte. Den Slip ließ sie einfach zu Boden rutschen, den BH hängte sie über das Bettende. Ihr war kalt, als sie vollkommen nackt im Zimmer stand. Im Schneidersitz hockte sie sich auf das Bett und fing an ihren Körper zu untersuchen. Sie tastete ihre Unterarme ab, massierte die Oberarme, rieb sich mit den Händen das Gesicht ab, zog an den Ohrläppchen und stellte dabei erstaunt fest, dass sie keine Löcher für Ohrringe hatte, sie zog an den Strähnen ihrer Haare, dass sich einige heraus riss, drückte die Handflächen auf den Bauch, boxte sich in den Unterleib, nahm ihre Brüste in die Hände, ließ die Finger über die Brustwarzen gleiten. Sie streckte die Beine aus, spreizte sie auseinander, beugte sich so weit vor, wie sie nur konnte, untersuchte die Poren ihrer Haut, zählte die blauen Flecken auf den Oberschenkel und presste den Daumen hinein, bis ihr fast die Tränen kamen; sie schob die Schamlippen auseinander, steckte mehrere Finger in die Scheide, sie streichelte ihre Klitoris, genoss einen Moment das Gefühl, stöhnte, fand aber in der Erregung keine Ruhe; Anna kratzte Hornhaut von ihren Fußsohlen und ließ die Krümel durch die Finger auf die Bettdecke rieseln, aber auch in den Zwischenräumen der Zehen fand sie keine Verletzung. Dann schnüffelte sie alle Körperteile ab, die sie mit der Nase erreichen konnte. Vielleicht dünstete irgendeine Pore ihres Körper einen verdächtigen Geruch aus. Anna schob die Nase über die Ober- und Unterarme, roch unter beiden Achselhöhlen, die glatt rasiert waren, roch an ihren Brust, beugte sich wieder vorn über und ließ die Nasenlöcher über die Oberschenkeln hinunter zu den Waden gleiten, schließlich bohrte sie mit jedem ihrer Finger in den Nasenlöcher, sog die Luft ein; dann leckte sie die Popel ab, die unter ihren Fingernägeln klebten, um in deren salzigen Geschmack irgendetwas zu finden. Als sie die Popel ausspukte, fiel ihr ein, dass der Geschmack ihres Körpers ungewöhnlich sein, und begann sie sich abzulenken, jeden Finger einzeln, dann wieder zuerst die Unter- und die Oberarme, sie versuchte ihren Bauch abzulecken, stellte aber enttäuscht fest, dass sie den mit dem Mund nicht erreichen konnte; Anna leckte ihre Beine ab wieder erst den Ober- dann den Unterschenkel, sie griff nach den Füßen, zog sie zum Kopf und lutschte an den großen Zehen; Anna biss sich in einen Handrücken, dass es schmerzte, und beobachte wie das weiße Bissmusster verblaste, und zum Schluss stopfte sie ein Hand so weit in Mund, dass sie den Würgereflex auslöste, sie fing an zu röcheln, ließ sich rückwärts auf Bett, sie schnaufte, aus Atem, die Bauchdecke hob und senkte sich wie eine Blasebalg. Die Arme lagen ausgestreckt neben Körper, sie drehte den Kopf hin und her. Sie fing an zu weinen. Tränen liefen über ihr Gesicht, als die Krankenschwester, von der Anna sich die Illustriete geliehen hatte, kurz an die Tür klopfe und einfach eintrat, als Anna nicht antwortete.

„Hallo, sie sind bestimmt total ausgehungert.“, sagte sie, als sie mit dem Abendessen das Zimmer betrat, verstummte aber abrupt, als sie Anna nackt und heulend auf dem Bett liegen sah. Ein Moment war sie ratlos, wie sie reagieren sollte, dann ging sie zu dem Tisch und stellte das Tablett darauf ab. Danach setzte sie sich neben Anna auf das Bett und streichelte ihre Wangen.

„Na, was ist denn? Ist es so schlimm? Kann ich ihnen irgendwie helfen?“

Anna richte sich auf und wischte sich Tränen aus den Augen.

„Wer bin ich?“, schniefte Anna. „Sagen sie mir, wer ich bin!“

„Tut mir leid“, antwortete die Pflegerin, die ungefähr so alt wie Anna war, und nahm sie in den Arm. „Das kann ich nicht, das weiß ich nicht.“

3
Nov
2006

Die tote Katze IV

Der klare kalte Blick ihrer Augen taute auf. Hatten ihre Pupillen ihn bisher an Eiszapfen erinnerte, die aus ihrem Gesicht heraus wuchsen und unter deren Schatten einem fast das Herz in den Adern gefrieren konnte, verwandelten sie sich nun, in etwas flüssiges, glasiges. Es schien nicht mehr lang zu dauern und sie bekäme einen Nervenzusammenbruch und sacke zusammen gekauert in den Sessel. Stattdessen sprang sie auf und lief vor ihm im Kreis, kratzte sich hektisch am Kopf und kaute auf den Nägel einer Hand.

„Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht sein!“, murmelte sie unentwegt, während sie ihre Runden drehte.

„Was kann nicht sein?“, fragte Zacharias.

Sie hielt vor einem der Bücherregale an, die neben dem Fenster standen, und zog einen Band heraus, blätterte darin als suche sie nach etwas, schien aber nicht fündig zu werden und so schleuderte sie das Buch auf den Boden.

„Sind sie jetzt vollkommen verrückt geworden!“

Nun sprang auch Zacharias aus seinem Sessel auf, um sie daran zu hindern sein Büro zu verwüsten. Schon nach wenigen Schritten hielt er inne. Er fühlte sich hilflos. Die Frau hatte ihre Runde wieder aufgenommen.

„Das kann einfach nicht!“, murmelte sie noch immer und blieb plötzlich stehen, nickte mit dem Kopf, kam auf Zacharias zu und packte ihn an den Schultern. „Er hat es mir gestohlen! Finden Sie ihn! Er muss es haben! So muss es sein! Es kann gar nicht anders sein!“

Sie spuckte die Worte förmlich aus wie eine ungenießbare Frucht, in die sie versehentlich gebissen hatte. Ihr Gesicht war seinem ganz nah, ein paar Tropfen spritzten in Zacharias Augen, während sie sprach.

„Was meinen sie?“, fragte er. „Ich versteh sie nicht.“

Er hatte sich noch immer nicht von ihrem Stimmungswandel erholt. Verglichen mit der Kälte die sie zu Beginn der Unterhaltung verströhmt hatte, schien sie jetzt vor Verzweiflung zu glühen. Er zog in Betracht, dass sie recht haben konnte, dass sie wirklich nicht wusste, wer sie war. Je länger er ihr in die augen blickte desto mehr bemitleidete er sie.

„Der Autofahrer natürlich!“, rief sie. „Wer denn sonst er muss mir mein Geld gestohlen haben, bevor er mich ins Krankenhaus brachte.“

„Das ist vollkommen unmöglich!“, entgegnet Zacharias. „Wieso sollte er das tun.“

„Weil ich genau weiß, dass ich viel Geld bei mir, ein paar hundert Euro waren, da bin ich mir hundertprozentig sicher.“

„Setzen sie sich erst mal wieder hin und beruhigen sie sich!“ Zacharias schob die Frau zurück auf ihren Platz.

„Hören Sie mir zu!“, begann er, als er selbst wieder in seinem Sessel saß. „Der Mann, der sie hierher gebracht hat, hat sie auf gar keinen Fall bestohlen. Wenn es das ist, was sie andeuten wollen.“

„Woher wollen sie das wissen?“, fauchte sie. „Wer weiß, was er sonst noch mit mir angestellt hat.“

„Jetzt hören sie aber auf. Sie wissen ja nicht, was sie da reden.“ Sie machte es ihm schwer ihr zu glauben. Diese ständigen Umschwünge zwischen Angst und Aggression: Waren die ein Zeichen für ihre Amnesie oder fühlte sie sich in die Enge gedrängt, weil er kurz davor ihre Lügengeschichte aufzudecken. „Ein katholischer Priester hat sie gefunden. Er war auf dem Weg zu einer Gemeinde, in der er eine Messe halten sollte, weil der dortige Priester gestorben war. Er hat sogar seine Telefonnummer bei uns hinterlassen für den Fall, dass wir oder die noch Fragen haben sollte.“

„Polizei?“

„Ja, natürlich, was denken sie“ Zacharias lehnte sich in seinem Sessel zurück, langsam spürte er wie seine Souveränität zurück kehrte. „In einem Fall, wie ihrem müssen wir die Polizei verständigen.“

Die nickte mit dem Kopf, die Augen waren weit aufgerisssen. Er zweifelte, dass sie wirklich verstanden hatte, in welcher Lage sie sich befand. Er stutzte wegen dieses Gedanken. Wenn er ihr Unverständnis und Verwirrtheit zu gestand, musste er ihr nicht dann auch die Amnesie abkaufen. Noch immer hielt er es für möglich, dass sie eine gute Schauspielerin war und ihren Auftritt in dieser Unterhaltung nur inszinierte. Er seufzte und schob einen Stapel Akten zurecht, die auf dem Tisch neben ihm lagen.

„Der Mann ist über jeden Zweifel erhaben“, sagte Zacharias. „Also noch einmal: Wie heißen sie?“

„Bitte, sie müssen mir glauben!“, zum ersten Mal während der Unterhaltung klang ihr Flehen ehrlich. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich heiße, wer ich bin oder was passiert ist. Ich kann mich an keinen Wald erinnern, an keine Straße und schon gar nicht an einen katholischen Priester.“

Sie machte eine Pause, während der sie aus dem Fenster sonst. Zacharias entschloss sich abzuwarten, wie sie fortfahren würde.

„Das einzige, woran ich mich erinnere ist, dass ich Geld bei mir hatte, viel Geld.“ sagte sie, ohne den Blick vom Fenster zu wenden. „Es steckte in einem Portemonnaie aus Wildleder. Das müssen sie mir glauben!“

„Welchen Grund sollte ich dafür haben?“ Er machte eine ausholenden Handbewegung. „Nach dem Theater, das sie hier gerade aufgeführt haben.“

„Bitte!“

„Ein Portemonnaie aus Wildleder also.“

„Ja!“

Nun blickte er aus dem Fenster, während er überlegte, was er tun sollte. Das beste wäre es, die Frau sofort der Polizei zu übergeben. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht, vielleicht war sie sogar in ein Verbrecher verwickelt. Welchen Grund sollte sie sonst gehabt haben, früh morgends durch einen Wald zu rennen.

„Wissen sie was, ich mache ihnen einen Vorschlag. Wir unterbrechen unser Gespräch und setzen es morgen fort. Vorerst werde ich sie nicht an die Polizei übergeben.“

Sie schien erleichtert und lächelte.

„Trotzdem, will ich ihren Namen wissen.“ Er senkte den Kopf und hob beschwichtigend beide Hände, als er sah, dass er sie wieder erschreckt hatte. „Das heißt, ich meine, wie soll ich sie nennen?“

Sie sah ihn verwirrt an.

„Na, ich würde sie ungern nur mir Frau anreden“, sagte er freundlich. „Sagen sie mir einfach einen Namen, irgendeinen Namen, der ihnen gerade einfällt.“

Sie zögerte, dann flüsterte sie aber doch: „Anna.“

„Schön, dann heißen sie also von nun an Anna“ Zacharias rieb sich die Hände, als hätte er ein Problem gelöst, über das er schon lange gebrütet hatte. „Also gut, Anna, ich rufe die Schwester, die führt sie zurück auf ihr Zimmer.“

Die tote Katze III

Die Frau lehnte sich in dem Sessel zurück blickte den Arzt an, der ihr gegenüber saß. Sie hatte die Beinen übereinander geschlagen. Der Saum ihres kurzen Jeansrockes war über das Knie gerutscht. Der Fuß des übergeschlagenen Beines wippte auf und ab. Ihre geblümte kaminrot farbene Bluse sie nicht in den Rock gesteckt, sondern die unteren Enden der beiden Hälfte vor dem Bauch zusammen geknotet. Beide Arme lagen auf den Lehnen ihres Stuhl. Die Fingernägel waren blau lackiert. Sie schien sich nicht sonderlich für ihr gegenüber zu interessieren, weil sie den Kopf in den Nacken legte, so dass ihre langen roten Haaren hinter dem Stuhl fast den Fußboden berührten, und schloss die Augen.

„Wie heißen Sie?“

„Wie oft soll ich ihnen das noch sagen.“ Sie antwortete, ohne ihre Position zu verändern. „Ich weiß es nicht.“

Dr. Julius Zacharias faltete die Hände und bemühte sich so ruhig wie möglich zu bleiben. Er war der Chefarzt der Station, auf der die Frau seit gestern Abend lag.

„Sie scheinen, dass ja nicht sehr ernst zu nehmen.“

„Sie glauben mir nicht.“

„Was würden sie in meiner Situation denken.“ Zacharias war eigentlich Notfallmedizer, mit psychologischen Erkrankungen kannte er sich nicht so aus, und eigentlich interessierten sie ihn auch nicht besonders. „Ich möchte noch einmal zusammenfassen: Vor ein paar Tagen findet ein Autofahrer sie, als sie aus einem Wald heraus ihm um fünf Uhr morgends vor den Wagen rennen. Er kann gerade noch bremsen, bevor er sie über den Haufen fährt. Sie torkeln ein paar Schritte weiter und brechen bewusstlos auf dem Asphalt zusammen. Der gute Mann bringt sie in dieses Krankenhaus. Wir stecken sie erst mal ins Bett, weil sie unterkühlt und durchnäßt sind, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, in welchem Aufzug sie Anfang November durch die Gegend rennen. Nachdem sie fast 36 Stunden geschlafen haben, wachen sie plötzlich auf, steigen aus dem Bett und wollen einfach so davon rennen. Ein paar Pfleger können sie gerade noch aufhalten.“

Zacharias machte eine Pause, um die Wirkung seines Berichtes abzuwarten. Welches Spiel spielte diese Person mit. Litt sie wirklich unter Gedächtnisverlust wie sie vorgab? Es fiel ihm schwer das zu glauben. Sie machte auf ihn ein kühlen und berechnenden Eindruck. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlte, wenn er sich nicht mehr an seinen Namen erinnern konnte, während er ihr provozierendes Schweigen abwartete. In sich spürte er den unwiderstehlichen Drang aufzustehen und dieser Personen ein paar kräftige Ohrfeigen zu geben. Wenn er sicher wäre, dass dies seiner Patientin hülfe, täte er das sicher auch. Er hatte in seiner 30jährigen Karriere schon bittere Pillen verabreicht. Aber er war unsicher, woher der Drang kam sie schlagen zu wollen. Der therapeutische Grund war nur ein Aspekt. Tatsächlich machte die Frau ihm auf einen unheimliche Art Angst. Die Gleichgültigkeit mit der sie die Amnesie hinnahm, machte ihm Angst. Für ihn persönlich wäre es das Schlimmste, wenn er seinen Namen oder sonst etwas über sich vergessen hätte. Ohne Zweifel war diese Angst vor dem Verlust der eigenen Identität normal, und der größte Teil der Bevölkerung teilte sie mit ihm. Wer wäre er denn, wenn er seinen Namen nicht mehr wüsste. Noch nicht einmal ein Niemand, nicht mehr der angesehene Leiter der Notfallchirurgie des Krankenhaus, nicht mehr der Besitzer eines teuren Hauses. Er hätte keinerlei Bedeutung und niemand beachtete ihn. Das war seine größte Angst, Bedeutungslosigkeit, und diese Angst hielt ihm die Frau mit ihrem Verhalten unter die Nase, als wollte sie sagen: „Scheiß auf deinen Wagen, dein Geld, deinen Erfolg! Egal wie viel du davon hast, du bist ein Nichts!“ Er wollte nichts weiter als diese Angst zur Seite zu schlagen.

„Wozu sie bestimmt kein Recht hatten“, sagte die Frau nach einer Weile.

Zacharias brauchte einen Moment, bis er verstand, was sie meinte. Er hatte länger geschwiegen als beabsichtigt hatte.

„Bis auf einige Abschürfungen an Armen und Beinen sind sie unverletzt“, fuhr er fort. „Auch mit ihrem Kopf scheint soweit ich das bis jetzt beurteilen kann, alles in Ordnung zu sein.“

„Dann geben sie mir doch einfach meine Sachen und lassen mich gehen.“ Sie sah ihn jetzt direkt in die Augen. „Ihnen kann es doch egal, ob ich weiß, wer ich bin.“

„Welche Sachen?“

„Na, mein Geld natürlich.“

Ihr Satz ließ Zacharias fast jubeln, jetzt konnte er es ihr zurückzahlen: Sie hatte sich verraten.

„Sie hatten nichts bei sich.“ Er lächelte ein bisschen zu sehr, das wusste er, konnte aber seine Freude nicht unterdrücken. „So wie sie hier vor mir sitzen, hat sie der Fahrer bei uns abgeliefert, mit nicht mehr oder weniger Sachen als sie in diesem Moment an haben.“

Ein Nichts, ein niemand sind sie, dachte er.

„Das kann nicht sein!“, stammelte sie. „Ich ...“

„Wollen sie mir immer noch, weiß machen, sie wüssten ihren Namen nicht?“, triumphierte Zacharias.

„Bitte! Glauben Sie mir!“, flehte sie. „Ich weiß es wirklich nicht!“

Wie sehr sich die Frau von einem Augenblick auf den nächsten verändert hatte, schockierte Zacharias. Ihre Selbstsicherheit, die sie bisher ausgestrahlt hatte, war verschwunden.

Die tote Katze II

Er klopfte die Taschen der Hose und des Jackets ab, die der Mann trug, sie waren leer. Auf dem schweren Schreibtisch, der aus Mahagoniholz war, lag eine schwarze Schreibunterlage, die das Licht einer metallenen Lampe reflektiert. In einem Ringbuch steckte eine Kugelschreiber, so als wollte jemand den Stift als Lesezeichen benutzen. Schröter schlug das Heft an der markierten Stelle auf, fand aber nur eine leere Seite karierten Papiers. Er blätterte durch die Seiten, nichts, alle Seiten waren unbeschrieben, nur die letzte schien herausgerissen worden zu sein. Der Kommissar legte das Heft zurück. Außer der Unterlage befand sich auf dem Schreibtisch nur ein längliche Holzschatulle ohne Deckel, die einige Stifte und ein weißes Plastiklineal enthielt. Schröter öffnete alle Schubladen, die unterste enthielt mehrere Stapel von Briefumschlägen, die zum Teil noch in Folie eingeschweißt waren, in der mittleren lagen Mappen aus Pappe, in den nichts abgeheftet war und Büroklammern, die oberste war voll gestopft mit allerlei Krimskrams: Tintenpatronen, abgefetzte Radiergummis, verbogene Pfeifenreiniger, Tabakdosen, Pfeifen, ein Locher, aus die ausgestanzten Papierschnipsel heraus quollen, Bleistifte, deren Spitze abgebrochen waren, Kugelschreiberminen in den verschiensten Farben. Schröter durchwühlte mehrmals jede Lade des Schreibtisches, weil er nicht glauben wollte, dass er das entscheidende nicht fand. Offensichtlich gehörte dieser Schreibtisch dem Toten, aber nichts auf oder in den Fächern deutete an, dass der Schreibtisch je benutzt worden war: Kein Ordner mit Telefonrechnungen, Kontoauszügen oder sonstiger Belge irgendwelcher finanzieller Transaktionen, keine Schachtel mit Brief von Geschäftspartner oder Freunden, keine Fotos, sei es nun von Frau oder Kind oder von der Katze, keine Zettel mit Notizen zu geführten Telefongesprächen, nicht einmal ein winziger Schnipsel Papier, auf dem auch nur ein Bleistiftstrich, nichts einfach, nichts, nur sterile unbenutzte Bürountensilien.

Was hatte Borger gesagt: „Ich weiß nicht, wie es dir geht. Aber mir scheint hier einiges nicht zu stimmen.“ Der Satz echote in seinem Kopf. Vielleicht hatte Borger ja doch recht. Aber noch war er zu diesem Eingeständnis nicht bereit, denn dann hätte er zu geben müssen, dass Borger, obwohl sie nach ihm am Tatort eingetroffen war, sich sofort zu ihm durch gefragt und höchstens fünf Minuten mit Schröter in dem Raum gewesen, bevor er sie nach oben geschickt hatte, die Situation am Tatort schneller erfasst hatte als er. Diesen Triumpf, auch wenn er ihn nicht offen aussprach, wollte er ihr nicht gönnen, nicht an Allerheiligen, nicht wenn er so müde und schlecht gelaunt.

Er schob die oberste Schublade, die er zum dritten Mall durch sucht hatte, zu und sah sich im Raum um. An der Wand gegenüber dem Fenster, vor dem der Schreibtisch thronte, spannte sich ein Regal mit Büchern auf. Schröter ging um den Tisch herum, und ließ seinen Blick über die Bände gleiten. Er fand überwiegend Belletristik: Gesamtausgaben von Goehte und Schiller, mehrere Gedichtbände, amerikanische Autoren wie Herman Melville, John Steinbeck, William Faulkner. Er brauchte nicht lange um festzusellen, dass er hier eine Bibliothek vor sich hatte, um die er seinen Besitzer beneidete. Am liebsten hätte Schröter die angestaubte Ausgabe von „Krieg und Frieden“ herausgenommen, um darin zu lesen. Aber auch unter den Bücher fand Schröter eben nur Bücher mehr nicht. Je länger er sich in dem Raum umsah, desto unbehaglicher wurde ihm, und er entschloss sich, erst einmal in den Garten zu gehen. Vielleicht fand er da ja Spuren der Anwesenheit einer menschlichen Aktivität.

Er ging auf den Flur und verließ das Haus durch eine Tür, die sich am Ende des Ganges befand. Die kühle, fast kalte Novemberluft, tat ihm gut. Die Nacht hatte es das erste Mal in diesem Herbst gefroren. Raureif überzog den Rasen. Schröter steckte die Hände in die Taschen seines Mantels und stapfte bis zu Mitte der Wiese, dann dreht er sich um.

Das Haus hatte zwei Etage mit jeweils zwei großen Fenstern zum Garten. Neben der Holztür, von der die Farbe abblätterte, wuchs ein halbvertrocknete Tanne bis zu den Giebeln des Daches. Unter den Fenster wucherten Rosensträucher. Der Garten hatte einen quadratischen Grundriss und bestand aus einer kurzgeschnittenen Rasenfläche. Ein Jägerzone grenzte das Grundstück zu den den Nachbarn ab. Schröter schritt die am Zaun entlang bis zu der hinteren Seite des Zaunes, die parallel zum Haus verlief. Hier schloss sich kein Nachbargrundstück an. Hinter dem Zaun viel die Böschung ein paar Meter bis zu einem schmalen Bach ab, dahinter begann der Wald. Schröter wollte gerade zum Haus zurückkehren, als im Gras nahe dem Ufer des Bach ein brauner Gegenstand auffiel. Er kletterte über den Zaun und fluchte, weil er mit dem Mantel an der Spitze einer Holzlatte hängenblieb. Der Untergrund war nass und er musste sich mit den Händen abstützen, als er zum Bach hinunter stieg, um nicht aus zu rutschen. Ein Bad in dem eiskalten Wasser war das letzte, was ihm fehlte. Wenigstens machte die Anstrengung ihn munterer. Er schnaufte, als er sich nach dem Gegenstand bückte. Es war ein Herrenportemonnaie aus Wildleder. Vom Stil her könnte es zum dem Toten passen, dachte Schröter, als er es von allen Seiten betrachte. Er klappte es auf, und nachdem er es durchsucht hatte, war er noch nicht einmal sonderlich erstaunt über das, was fand. In einem der Fächer steckten Hunderter und Fünfziger Euroscheine, die vollkommen durch näßt waren, insgesamt hielt Schröter abgesehen von ein wenig Münzgeld 850 Euro in der Hand, mehr fand er nicht. Nur Geld enthielt das Portemonnaie, aber keinen Personalausweis, keine Versichtenkarte einer Krankenkasse, keine Kredit- oder Mitgliedskarten für einen Fitnessclub oder eine öffentliche Bibliothek.

Ungläubig blickte Schröter in beide Richtungen den Bach entlang und zum Wald hinüber. Im Gras und im Morast des jenseitigen Ufer des Baches entdeckte er keine Fußspuren. Er erinnerte sich, dass in der Nacht in Strömen geregnet hatte. Er hatte es bemerkt, als er gegen drei Uhr aufwachte, um auf Toilette zu gehen. Erst als in seinen Wagen gestiegen war, um hierher zu fahren, hatte der Regen nachgelassen. Er steckte das Portemonnaie in eine Manteltasche, kletterte die Böschung hoch, über den Zaun und ging zurück.

„Habt ihr irgendwas gefunden?“, fragte er die Beamten, denen er im Flur begegnete. „Ich mein, was persönliches?“

Die Männer schüttelten mit den Köpfen.

„Du brauchst mir gar nichts sagen?“, blaffte er Borger an, als er sie auf der Treppe zur ersten Etage traf. „Du hast nichts gefunden.“

„Schlimmer!“, antwortete sie und schien noch ratloser zu sein als er, was Schröters Stimmung etwas erhellte.

„Was soll denn schlimmer sein als nichts?“

„Eben nichts, gar nichts, nothing!“ Borger breitete die Arme vor sich aus und schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel.

„Was so eigentlich auch nicht stimmt“ Sie wischte sich mit einer Hand Strähnen ihrer Haare aus dem Gesicht.

„Ja, was denn nun“, bohrte Schröter. „Nichts oder doch was?“

„In einem der Zimmer hängen einige Gemälde, die nach meinen bescheidenen Wissen von moderner Kunst einen nicht geringen Wert haben“

Sie stieg die wieder die Treppe hinauf, Borger folgte ihr ins Schlafzimmer.

„Der Tresor hier in der Wand war offen, als ich hereinkam.“ Sie griff hinein und zeigte Schröter ein Päckchen. „Da liegen ein paar tausend Euro drin.“

Borger ging zu einem Kleiderschrank und schlug dessen Tür zur Seite.

„Aber die Schränke sind alle leer. Nicht ein Kleidungsstück, nicht einmal einen Schnürsenkel findest du darin!“

1
Nov
2006

Die tote Katze I

Selbst wenn er versuchte weg zu blicken, zog ihn der Körper der toten Katze immer wieder an. Seine Augen klebten an dem Haufen aus Fell und Blut, wie eine Fliege an einem Fliegenfänger. Minutenlang schon stand er mit auf die Brust gesenkten Kopf neben der Leiche des Mann, die friedlich in dem Sessel saß als schliefe sie, nur ein roter Blutfleck über dem Herzen verriet, dass hier ein Verbrecher geschehen. Kommissar Jens Schröter strich sich mit einer Hand über den Bauch, um sich abzulenken. Dass er sich mit der anderen auf der Schulter des Mannes abstützte, merkte er nicht. Er hatte in seiner Karriere schon viele Tatorte gesehen, keiner war wie dieser hier gewesen. Er fragte sich, wer das Opfer war, das Tier oder der Mensch. Bei allen seinen frühen Fällen konnte das Opfer eindeutig identifiziert: das Opfer war immer diejenige Person, die die meiste Brutalität abbekommen hatte, egal wie viele Personen von dem Verbrechen betroffen waren, egal ob der Mörder die Wohnung verwüstet hatte oder weitere Personen getötet oder verletzt hatte, stets gab es ein klar definierbares Opfer. Und Schröters Aufgabe bestand dann darin den Mord an diesem einen Opfer aufzuklären. Wenn er mit einem Mord konfrontiert wurde, bemühte er sich zuerst dieses eine Opfer zu identifizieren. Die wenigsten Täter planten ein Massaker, sondern zielten mit ihrer Tat auf genau eine Person; und sobald Schröter diese eine Person gefunden hatte, konnte er Hypothesen formulieren, von denen er sich in den Ermittlungen leiten ließ. Aber wie lautete die Hypothese für den Mord an einer Katze?

„Hast du so etwas schon mal gesehen?“ Claudia Borger, Schröters Assistentin, deutete auf den Tierkadaver. Sie hätte sich die Geste sparen können, es war klar, dass sie die Katze meinte, einen erstochenen Mann hatten beide oft genug gesehen.

Schröter schüttelte den Kopf. Er fragte sich, ob der Anblick ihn deshalb so schockierte, weil er selbst zwei Katzen besaß. Wie würde er reagieren, wenn er nach einem anstrengenden Arbeitstag Cornelius, sein schwarzer Kater, oder Miranda, seine braunweiß getigerte Katze, so zerstückelt in seinem Flur lagen.

Der Kadaver oder besser die Überreste der Katze lagen mitten im Raum, ein paar Meter von dem toten Mann entfernt. Das einzige woran, man erkennen konnten, dass dieser Haufen aus Blut, Fell und Knochen bis vor ein paar Stunden auf vier Pfoten durch den Garten gesprungen war, waren das weiße Gesicht der Katze, das wie eine Seerose in einer Blutlache schwamm und Schröter mit schwarzen aufgerissenen Augen anstarrte. Der Schädel war zertrümmert und das Gehirn quoll heraus. Vermutlich war es eine Siamkatze gewesen. Der Täter musste mit dem Messer, das neben dem Haufen im Parkett steckte, wie in Trance auf das Tier eingestochen haben.

„Vermutlich die Tatwaffe“, sagte einer der Leute von der Spurensicherung, als er das Messer heraus zog und in einen Plastikbeutel steckte.

„Geht es dir gut“, fragte Borger mit besorgtem Gesicht.

„Was für eine dumme Frage!“, Schröter tat es leid, dass sie seine Wut abbekam, aber irgendwohin musste er, damit er endlich seine Arbeit aufnehmen konnte.

„He, ich habe dir nichts getan“, wehrte sich Borger. „Ich mache mir Sorgen, um dich und blaffst mich hier so an.“

„Wie ginge es dir denn, wenn man dich Allerheiligen aus dem Schlaf klingelt, weil wieder irgendein ein Scheißkerl ein armes Schwein abgestochen hat“ Er wollte sich nicht entschuldigen, wollte sich einfach nur auskotzen, Es ging ihm tatsächlich nicht gut. Er hatte sich noch immer nicht von seiner letzten Grippeinfektion kuriert. Als er der Anruf von der Leitstelle entgegen genommen hatte, hatte er sich gerade in seinem Sessel zurückgelehnt, um Musik zu hören, währen Miranda schnurrend auf seinem Schloss lag.

„Ich kann mir denken, wie dich das mit nimmt.“ Borger bückte sich zu der Katze und tippte mit einem Wattestäbchen in das Blut der Katze. „Aber wir haben einen Job zu erledigen. Ich weiß nicht, wie es dir geht. Aber mir scheint hier einiges nicht zu stimmen.“

„Ach, ne, darauf wäre ich nie gekommen!“ Borger hatte recht. Er musste seine Sentimentalität beiseite schieben und mit seiner Arbeit beginnen. Er durfte nur nicht vergessen, worin seine Aufgabe bestand: Den Mord an diesem Kerl im Sessel aufzuklären, er war das Opfer nicht die Katze. Hoffentlich würde er das nicht vergessen.

„So sicher bin ich mir da nicht.“ Borger hielt das Wattestäbchen unter ihre Nase, um daran zu riechen. „Ich mein nicht den Zustand der Katze oder die Art, wie sie abgeschlachtet wurde.“

„So, was dann?“

„Sondern den Zeitpunkt, zu dem der Täter auf sie eingestochen hat.“ Die Beamtin untersuchte die Einstichstelle über dem Herz des Mannes. „Für mich deutet der Zustand des Blutes der Katze darauf hin, dass sie erst einige Stunden nach dem Mord getötet wurde. Genaueres muss uns das Labor.“

Schröter beobachtete seine Assistentin. Sie arbeiteten erst seit einigen Wochen zusammen. Borger war von Hannover nach Alfeld versetzt worden. Den Grund für die Versetzung kannte Schröter nicht. Ihm waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass sich Borger während der Ermittlung in einer Mordserie zu seiner aus dem Fenster gelehnt hatte, zu viel Eigeninitiative gezeigt, die beinahe zu einem weiteren Opfer geführt und die Aufklärung verhindert hatte. Ein Strafversetzung, also. Schröter konnte den Eifer seiner Kollegin verstehen. Chemische Auswertung von Spuren am Tatort war ihr Spezialgebiet. Sie wollte ihren Fehler wieder gut machen. Trotzdem schien im ihre Vermutung etwas gewagt. Warum sollte der Täter erst den Mann ermorden und dann Stunden später auf die Katze einstechen? Was hatte er solange in dem Haus gemacht? Auf den ersten Blick sah die Wohnung nicht so aus, als wäre sie durch sucht wurden oder als wäre etwas gestohlen worden. Nimm dich zusammen Schröter, sagte er zu sich. Das ist nicht deine Katze, die dort auf dem Teppich liegt.

„Ein gewagte Vermutung“ Schröter gähnte. Es wurde Zeit, dass er sich endlich mit dem eigentlichen Opfer befasste. „Was wissen wir bisher über das Opfer?“

„Wen meinst du jetzt den Mann oder die Katze“, stichelte Borger. Er hasste ihre Art, immer noch einmal nach zu stechen, gerade dann wenn er sich wieder gefangen hatte. Er biss sich auf die Zunge und ignorierte die Bemerkung.

„Ist das der Besitzer des Hauses?“, fragte er stattdessen.

„Vermutlich“ Borger blätterte in einem Notizbuch. „Laut Klingelschild wohnt hier ein Herr Franz Scheinemann. Wir überprüfen das gerade. Bisher konnten wir keine Ausweispapiere oder ähnliches bei ihm finden. Und so früh an einem Feiertag schlafen die meisten Nachbarn“

„Wer hat denn dann die Polizei gerufen?“, fragte Schröter. „War das kein Nachbar?“

„Gegen 7 Uhr heute früh ging ein Anruf bei der Dienststelle ein“, antwortete Borger. „Ein Frau berichtete, dass in der Ludwigstraße 48 ein Mord verübt wurde. Der diensthabene Beamte meinte, dass die Stimme der Frau hektisch klang, außer Atem, so als wäre sie eine lange Strecke gelaufen.“

„Ein anonymer Anruf?“ Schröter stöhnte. „Konnte das Gespräch zurückverfolgt werden.“

„Ja, allerdings nur bis zu einer Telefonzelle“ Borger steckte ihr Notizbuch zurück in ihre Handtasche, die sie um die Schulter gehängt trug. „Der Beamte dachte zuerst, dass es sich um einen Scherz handle, hat dann aber doch reagiert, weil es nicht die richtige für Kinderstreiche wäre.“

Schröter nickte, kaum jemand würde an einem Feiertag um sieben morgends aus dem Bett steigen, um der Polizei ein Bären aufzubinden.

„Und weil außerdem eine Streife in der Nähe.“, fuhr Borger fort.

„Wo ist denn diese Telefonzelle. Haben wir überhaupt noch eine funktionierende in der Stadt. Ich dachte die wären alle dem Vandalismus oder Sparzwang der Telekom zum Opfer gefallen?“

„In der Claudiusstraße, nahe dem Parkplatz am Markt steht noch eine. Von der kam auch der Anruf.“ Borger ging um den Schreibtisch herum und inspizierte die Bücher in den Regalen. „Wir haben schon Beamte hingeschickt, aber Fehlanzeige.“

„Gibt es sonst irgendwelche Zeugen?“

„Nein.“ Borger verschränkte die Arm vor der Brust.

Manchmal erstaunte Schröter die Gleichgültigkeit Borgers. Hatte sie eben noch, während sie die Katze untersuchte eine gewissen Form von Eifer gezeigt, war sie jetzt ganz abrupt in das genau gefallen. Während sie dieses eine Wort gesprochen hatte, war in ihrer Stimme nicht die geringste Emotion gewesen. Er hätte auch fragen können, ob sie eine rauchen wollte, er hätte dieselbe Antwort bekommen. Für jemanden, der so schnell wie möglich zurück auf ein interessanteren Posten versetzt werden sollte, waren solche Stimmungsschwankungen nicht gut. Schröter kannte das von sich selbst. Er war selbst einmal so jung wie Borger gewesen, als er in die Stadt. Jahrelang hatte er auf einen spektakulären Fall gewartet, bei dem er zeigen konnte, was in ihm steckte. Nichts war passiert, wenn von ein paar Einbruchserien absah. Irgendwann hatte er sich damit abgefunden, in diesem Kaff hängen zu bleiben. Er war jetzt 47, trank sich langsam aber sicher einen Bierbauch an, und als den Toten, der da vor ihm im Sessel an seinem Schreibtisch saß, betrachte, wurde ihm klar, dass er eigentlich für solche Fälle zu alt war. Alt? Mit 47? Er kratzte sich am Kopf. Er erinnerte sich, dass sich als junger Mann vorgenommen hatte, sich selbst frühestens mit Anfang 60 als alt zu bezeichnen. Was war geschehen? Wieso fühlte er sich auf einmal so alt? Nur weil der Mörder seine Wut oder welches Gefühl auch immer es war, nicht an dem Opfer sondern an der Katze ausgelassen hatte?

„Scheiße!“, entfuhr es ihm und bemerkte, dass seine Hand noch immer auf der Schulter des Mannes lag, er zog sie zurück und massierte die Finger, die sich ganz taub anfühlten. „Dann fangen wir mal.“

Schröter sah sich im Zimmer um.

„Ich sehe mich hier im Arbeitszimmer und im Garten um.“ Die frische Morgenluft würde ihm gut tun. „Du übernimmst bitte die anderen Zimmer im Erdgeschoss und die erste Etage.“

„Wenn du meinst.“

Nachdem Borger den Raum verlassen hatte, konzentrierte sich Schröter endlich auf das Mordopfer. Der Mann war ungefähr 55 bis 60 Jahre alt, hatte eine Halbglatte, über die er ein paar dünne Strähnen weißen Haares gekämmt hat. Er saß aufrecht in dem Stuhl, der ein Stück von dem Schreibtisch weggerückt war, beide Arme ruhten auf den den Lehnen. Es schien kein Kampf stattgefunden zu haben. Bis auf den Blutfleck wies das weiße Hemd keinen Schaden auf. Der Reisverschluss der schwarzen Cordhose war offen, was Schröter erst jetzt bemerkte. Der Mann trug braune Wildlederschuhe und schwarze Socken. Die Unterlippe hing ein wenig herab, als wäre der Mann beim Sprechen unterbrochen worden. Ein süßlicher fast blumiger Geruch ging von dem Körper aus, der den Kommissar an ein Frauenparfum erinnerte.

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