Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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21
Aug
2007

ZEIT-Schnipsel

Ihr Platz war besetzt! Frau Bönschuber stand in der Tür des Busses und starrte auf die erste Sitzreihe. Sie stellte die Tüte mit den Deutschklausuren ab, griff mit zittrigen Fingern nach ihrer Brille, die an einer Kette um ihren Hals hing, und schob das Gestell auf die Nase. Auf ihrem Platz am Fenster saß ein kleiner, dicker Mann, der in schwarz gekleidet war, eine Melone auf dem Kopf trug und wegen seines weißen Gesichtes einer aufgeschnittenen Kokosnuss ähnelte. Was für eine lächerliche Erscheinung, dachte Frau Bönschuber.

"Nun, machen Sie 'mal hin!", drängelte der Fahrer, "andere Leute wollen auch noch einsteigen."

Frau Bönschuber drehte den Kopf zur Seite, streckte die Nase in Höhe und blickte mit zusammengepressten Lippen auf den Fahrer herab, dass dieser wie einer ihrer Schüler rot wurde, dann ging sie ohne das Haupt zu senken zu ihrem Platz. Der Sitz neben dem Fettwanst war frei; aber hier ging es ums Prinzip. Seit Jahren fuhr sie mit der Linie 76 zum Gymnasium, immer war der Platz für sie reserviert gewesen. Wenn sie ihn sich jetzt nehmen ließ, wer würde morgen dort sitzen? Ein schwitzender Arbeiter auf dem Heimweg von der Nachschicht? Bei diesem Gedanken lief ein Schaudern ihren Rücken hinunter. Frau Bönschuber richtete sich neben dem freien Platz auf und räusperte sich.

"Oh, entschuldigen Sie", sagte der Mann und nahm seine Aktentasche, die er neben sich abgelegt hatte, auf seinen Schoß, "Ist das nicht ein wunderschöner Morgen!"

In diesem Moment fuhr der Bus an und wegen der Trägheit ihrer Masse verlor Frau Bönschuber die Balance und glitt gerade noch auf den freien Platz, bevor sie auf den Gang stürzte.

"Alles in Ordnung?", lächelte der Mann neben ihr.

Was erlaubte sich dieser Kerl? Erst raubte er ihr den Platz, jetzt war er auch noch höflich, so dass Frau Bönschuber nett zu ihm sein musste. Sie quetschte ein Lächeln durch ihre Lippen, wandte sich ab, schnaubte und sann nach Rache. Da fiel ihr die ZEIT ein, die zwischen den Klausuren steckte. Es gab nur zwei Arten, wie man die ZEIT lesen konnte: entweder man spannte die Seiten vor sich auf oder man faltete die Artikel zu handlicher Größe zusammen. Frau Bönschuber zog die aktuelle Ausgabe aus der Tüte, wählte die erste Variante und, als sie das Feuilleton aufschlug, streckte sie eine Hand vor das Gesicht ihres Nachbarn. Das hatte er nun davon. Wenn er schon auf ihrem Platz saß, durfte er keine Freude daran haben. Aber er ließ sich nicht stören. Bald erlahmten ihre Arme und die Fahrbewegungen des Bus zerknitterten die Seiten.

"Gnädige Frau, darf ich ihnen behilflich sein?" fragte der Dicke.

"Wobei könnten sie mir denn helfen?", fauchte Frau Bönschuber und erschrak, weil sie die Beherrschung verloren hatte.

"So kann man die ZEIT nicht lesen." sagte er und kramte eine Schere aus seiner Aktentasche.

"Gestatten sie?"

Er wartete einen Moment, dann nahm er ihr die Seiten aus der Hand, falte sie zusammen und schnitt entlang der Faltung.

"Was machen sie da? Sie können doch die ZEIT nicht zerschneiden"

"Mit dieser Schere", antwortete der Mann, "kann ich jede Zeitung zerschneiden. Vor der erschreckt sogar die Samstagsausgabe der FAZ."

Er machte eine Pause, während der er die halben Seiten sortierte.

"Aber die ZEIT ist natürlich ein ganz besonders störrisches Individuum", fuhr er fort, "Man kann sie durchaus mit dem Scheinriesen Tur Tur vergleichen."

"Mit wem?"

Wie betäubt sah Frau Bönschuber dem Treiben des Mannes zu und sie überlegte, ob sie ihre liberalen Grundsätze, ihre Überzeugung, dass nur Gewaltlosigkeit die Welt vor dem Untergang retten könne, aufgeben sollte und stattdessen dem Kerl die Schere entreißen und ihm ins Herz stoßen sollte, um ihre ZEIT, ja um die ZEIT an sich zu retten.

"Der Scheinriese Tur Tur, der in der Ferne riesig erscheint und beim Näherkommen schrumpft. Haben sie etwa Jim Knopf nicht gelesen?", fragte der Mann und zerschnitt die Seiten zuerst längs und dann quer, so dass er jede Doppelseite in acht Blätter zerteilt hatte.

"Gute Frau! Sie müssen die ZEIT einmal beobachten, wenn sie am Kiosk zwischen den anderen Zeitungen steckt. Mit ihrem Format und dem protzigen Titel plustert sie sich auf, als sei sie ein Gigant des Journalismus. Wenn man sie dann in den Händen hält und unter der Last des Pseudoliberalismus ihrer aufgedonnerten Artikel zusammenbricht, dann hat sie einen schon so gut wie gefangen."

Der Mann sortierte die Blätter nach einem, wie es Frau Bönschuber schien, willkürlichen Prinzip.

"Aber die ZEIT ist eine Fackel des Liberalismus!", Frau Bönschuber fühlte sich berufen das einfältige Geschwätz zu beenden, sie gierte nach der Schere. "Auch in Zeiten, in denen andere Blätter sich dem Zeitgeist anbiedern, bleibt die ZEIT ihren Prinzipien treu."

"Ja, ihren Prinzipien bleibt sie treu: Nämlich ihre Leser einzuschläfern, sie abhängig zu machen. Man gewöhnt sich an sie wie an schlechten Rotwein. Wenn man sie einmal gelesen hat, hängt man an ihr wie ein Fixer an der Nadel. Auch sie sind so ein Opfer."

Frau Bönschuber griff nach der Schere, die der Mann zwischen die Sitze geklemmt hatte; aber er packte ihre Hand, als sie zu ihrem Stoß ausholte, entriss Frau Bönschuber die Schere und steckte sie zurück in seinen Aktenkoffer.

"Sie Schuft! Sie Ungeheuer!" schrie Frau Bönschuber, so dass einige Fahrgäste sich umdrehten und sie aufforderten gefälligst ruhig zu sein.

"Ausserdem bin ich überzeugt, dass die ZEIT sich mit den Philologen verschworen hat, damit Deutschlehrer ihre Leistungskurse mit verworrenen Artikeln quälen können."

Trotz seiner Leibesfülle schlängelte sich der Mann an ihr vorbei, ohne dass sie ihm seine Aktentasche entreißen konnte. Er reichte Frau Bönschuber die zerteilten Seiten.

"Seien sie mir dankbar, dass ich den Scheinriesen für sie auf seine wahre Größe reduziert habe", sagte er, als er den Haltewunschknopf drückte, "Nur wenn sie die ZEIT in diesem Format lesen, können sie das Kleinkarierte in den Artikeln erkennen."

Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle. Bevor der Mann ausstieg, reichte er ihr einen zusammengefalteten Zettel.

"Hier die Leseanleitung, sie sagt ihnen in welcher Reihenfolge sie die Blätter lesen müssen."

Der Mann trat auf den Bürgersteig. Der Bus fuhr weiter. Als sich Frau Bönschuber nach ihm umdrehte, grinste er und lüpfte die Melone zum Gruß. Sie faltete den Zettel auseinander: Er war leer.

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