Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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Gedanken

3
Jan
2014

Warum die Mammuts ausstarben

Zu Beginn des neuen Jahres haben sich einige von Euch sicher ein paar gute Vorsätze genommen. Der eine will vielleicht weniger in virtuellen Welten umherirren und stattdessen öfter ein gutes Buch lesen. Eine andere möchte das Rauchen aufgeben, mehr Sport treiben oder sich gesünder ernähren. Warum die meisten Menschen ihr Verhalten ausgerechnet ab dem ersten Januar ändern wollen, mit den dafür nötigen Schritten also warten, bis die Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne einen willkürlich gewählten Punkt erreicht hat, ist so als stellte jemand am 1. April einen Wasserrohrbruch in seiner Wohnung fest, telefonierte am 1. August mit dem Klempner und beschlösse gemeinsam mit ihm, dass der beste Zeitpunkt für eine Reparatur der 2. Januar des kommenden Jahr sei. Der 1. Januar scheidet natürlich aus. Welcher Handwerker arbeitet schon an meinem Feiertag?

Die intelligenteren Menschen unter uns nutzen die Zeit bis zum neuen Jahr, um sich auf die Änderungen vorzubereiten. Wir rollen den feuchten Teppich zusammen, hängen ihn zum Trocknen auf die Wäscheleine und lassen das weiterhin sprudelnde Wasser über einen Durchbruch in der Wohnungstür abfließen. Einmal pro Woche wischen wir das gesamte Treppenhaus, um die Wartezeit auf den Klempner einigermaßen erträglich zu halten. Die Nachbarn beklagen sich nur selten über den Schimmel, der langsam an Wänden empor klettert - schließlich müssen sie für den Rest des Jahres keinen Beitrag zur Treppenhausreinigung leisten, was einige Unannehmlichkeiten entschuldigt. Mit dem neuen Jahr wird alles besser.

Am 2. Januar klingelt uns der Klempner um 7 Uhr aus dem Bett. Wir verstecken uns unter dem Laken, weil der Kopf noch immer von der Silvesterparty dröhnt. Wir nehmen uns fest vor, den nächsten Jahreswechsel auf jeden Fall mit weniger Alkohol zu begießen. Während unter dem Bett das Wasser plätschert, sagen wir uns, dass das ja alles halb so schlimm sei. Seitdem letzten Frühjahr lief es doch ganz gut, da kommt es sicher auf ein paar Tage mehr nicht an. Dabei müssen wir noch Glück (vielleicht wäre Pech hier der bessere Ausdruck) haben, wenn der Klempner überhaupt am 2. Januar erscheint. Handwerker sind im allgemeinen nicht für ihren mäßigen Alkoholgenuss bekannt.

Es sollte uns also nicht wundern, wenn die meisten Menschen auch diejenigen, die sich vorbereitet wähnen, an ihren guten Vorsätzen straucheln. Wenn wir dieses Jahr unsere guten Vorsätze erfolgreich umsetzen wollen, müssen wir den Grund für das langjähriges Scheitern erkennen: Der fatale Hang des Menschen zu Ausreden. Dabei kann es sich nur um eine relativ junge Entwicklung in unserem Verhaltensrepertoire handeln und zwar um eine Degeneration des Menschen als Folge seiner Gewöhnung an zivilisatorische Errungenschaften. Im urzeitlichen Überlebenskampf können uns Ausreden keinen evolutionären Vorteil verschafft haben.

Ich stelle mir meinen Ur-Ur-Ur...-Urahn während der letzen Eiszeit vor. Er rennt gerade vor einer wild gewordenen Mammutkuh davon. Während er sie jagt, reflektiert die Kuh ihr bisheriges Verhalten - niedere Instinkte sind immer Ausreden. Ihr dämmert, dass dieser halb verhungerte Homo Sapiens sie mit seinem mickrigen Holzspeer nicht ernsthaft verwunden kann. Sie muss ihn nur mit ihrer Kraft und Größe nieder trampeln, also macht sie kehrt und greift an. Mein Urahn weiß aus Erfahrung, dass er über die größere Ausdauer verfügt. Stundenlang kann er vor einem Mammut davon laufen, bis es erschöpft zusammenbricht. Darin besteht gerade seine Jagdtaktik. Allerdings hat er von der Feier der Wintersonnenwende noch immer einen entsetzlichen Kater und jetzt auch noch Wadenkrämpfe. Am liebsten hockte er sich ein Augenblick hin, um zu verschnaufen. Was wäre passiert, wenn mein Urahn diesen Ausreden nachgegeben hätte? Denn seien wir ehrlich, um nichts anderes handelt es sich: In der Jungstein gelten körperliche Unzulänglichkeiten nicht als Grund, nicht den Abwasch zu machen oder nicht auf die Jagd zu gehen. Wie also sähe die Welt heute aus, wenn der Homo Sapiens damals einen Hang zu Ausreden gehabt hätte?

Ich sinnierte nicht über die Gründe für das Scheitern guter Vorsätze. Das Mammut hätte meinen Urahn niedergetrampelt. Der Homo Sapiens wäre ausgestorben. Die Mammuts hätten ihn ausgerottet,
sich statt seiner auf der Erde ausgebreitet und zu zivilisatorischen Höchstleistungen aufgeschwungen, die sich der begrenzte menschliche Intellekt nicht vorstellen kann. Mammutarchäologen grüben in der sibirischen Tundra die versteinerten Knochen einer primitiven Affenart aus und wunderten sich über verblichene Malereien an den Wänden unzugänglicher Höhlen. Welche Wesen auch immer beschließen, sich den eigenen Instinkten zu widersetzen und ihren Hang zu Ausreden zu überwinden, erklimmen die erste Stufe der Leiter zur Spitze der Nahrungskette.

Wenn ihr also in den nächsten Wochen an Euren guten Vorsätzen verzweifelt, wenn ihr mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zur Arbeit fahrt, wenn ihr bei McDonald's einen labbrigen Hamburger bestellt statt euch einen vitaminreichen Salat zu bereiten, wenn ihr im Supermarkt wieder eine Plastiktüte nehmt, weil ihr zu bequem wart eine Tasche mitzunehmen, und die paar Cent für eine Papiertüte sparen wollt, wenn ihr innerhalb Deutschlands mit dem Flugzeug anstatt mit dem Zug reist und die Verspätungen der Bahn als Gründe anführt, wenn ihr dem fortschreitenden Klimawandel misstraut und die anderen erst ihr Konsumverhalten ändern müssen, bevor ihr euren Ressourcenverbrauch einschränkt, dann denkt immer daran: Die Mammuts sind ausgestorben.

26
Sep
2010

Meine neue Mitbewohnerin

Vor ein paar Jahren habe ich einen Film gesehen, in dem es um eine Untersuchung ging, wie viel Zeit Menschen in ihrer Wohnung mit bestimmten Tätigkeit verbringen. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, wie die Arbeitsabläufe in der Wohnung optimiert werden könnten und was bei der Planung der Inneneinrichtung berücksichtigt werden musste, damit die Bewohner die Hausarbeiten möglichst effektiv verrichten könnten. Zu diesem Zweck wurden Beobachter in die Wohnung geschickt. Sie reisten in winzigen Wohnwagen an, die sie in den Vorgärten der Häuser abstellten. Tagsüber hockten die Beobachter auf Hochsitzen, die in den Wohnungen montiert wurden. Von dort herab protokollierten sie alle Tätigkeiten des Bewohners mit einer Stoppuhr. Wie lang braucht er, um von der Küchetür zum Herd zu gehen? Wie lang dauerte es ein Ei zu kochen? Wie viel Zeit verbrachte der Mieter mit den Mahlzeiten? Die Beobachter hatten die strikte Anweisung, sich nicht mit den Menschen zu unterhalten. Für die Bewohner sollten die Beobachter praktisch nicht vorhanden sein. Jedwede Form der Kommunikation war verboten. Der Film spielte in den 50er oder 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Grenzgebiet von Schweden und Finnland.

Leider kann ich mich nicht mehr an den Titel des Films erinnern. Seit einigen Wochen denke ich öfter an eine Szene aus dem Film, die mir damals irgendwie Angst machte, mir sonderbar und unheimliche vorkam, obwohl sie vollkommen harmlos war.

Ein allein lebender älterer Mann betrat seine Küche. Er schnitt sich eine Scheibe Brot, schmierte Butter darauf und belegte sie mit einer Scheibe Wurst. Er füllte ein Glas mit Milch, setzte sich an den Küchentisch, trank und aß. Währenddessen notierte der Beobachter des Mannes von seinem Hochsitz aus jede Regung des Mannes.

Die Küche war spartanisch eingerichtet. Der Mann saß an einem rustikalen Holztisch, auf dem weder eine Tischdecke lag noch eine Vase mit Blumen stand. Von der Wand blätterte der Putz. Eine Spüle, ein rostiger Gasherd, über dem ein oder zwei Schränke hingen. Um die Beine des Mannes schnurrte keine Katze, am Kühlschrank hingen keine Familienfotos und Postkarten. Der Mann hatte keine Angehörigen, lebte allein, traf sich ab und zu mit Kumpanen in einem Wirtshaus auf ein paar Bier.

Was mir an dieser Szene, in der der Mann die Bissen kaute und gelegentlich mit einem ironischen Lächeln zu seinem Beobachter schielte, so unheimlich, so unerträglich vorkam, war die Stille, in der der Mann lebte. Während er sein Mahl aß, lief im Hintergrund kein Radio. Ich glaube, der Mann besaß noch nicht mal eines. Der Stuhl, auf dem er saß, knarrte, wenn er sich über den Teller beugte. Das Milchglass klopfte auf den Tisch, wenn er es absetze. Der Teller schrammte über das Holz, wenn er ihn versehentlich anstieß. Wenn er trank, gluckste er. Als er das Geschirr zur Spüle brachte, ächzten die Dielen. Der Wasserhan zischte, als er den Teller wusch. Das waren die einzigen Geräusche. Der Mann schwieg, der Beobachter schwieg, selbst die Wohnung schwieg.

Ich drückte mich tiefer in den Kinosessel und fragte mich, wie der Mann diese Stille aushielt. Wenn ich damals nach Hause kam, vertrieb ich zuerst die Stille aus der Wohnung. Ich schaltete das Radio oder den Fernseher ein, sorgte mit Musik für Hintergrundgeräusche.

Damals ...

Seit ungefähr einen Monat habe ich eine neue Mitbewohnerin. Wie lange bin ich achtlos an ihr im Treppenhaus vorbeigeeilt, wenn sie auf dem Fußabtreter hockte und darauf wartete, dass sie eintreten dürfe. Sie scheint schon länger geahnt zu haben wie gut wir miteinander auskommen würden.

Vor einigen Wochen beim Frühstück sah ich endlich ein, dass ich nicht gleichzeitig das Morgenmagazin auf WDR 5 hören und die Tageszeitung lesen konnte. Egal wie sehr ich mich auf das eine konzentrierte, das andere war immer neidisch darauf bedacht, meine Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Ich habe absolut kein Talent für Multitasking. Ich erinnerte mich, wer im Treppenhaus auf Einlass wartete.

„Also gut“, sagte ich zu ihr und öffnet die Tür, „du darfst reinkommen!“

Während sie sich in meiner Wohnung ausbreitete, schaltete ich das Radio aus und widmete mich wieder meinem Müsli und der Tageszeitung. Seit diesem Morgen, seit über einem Monat habe ich das Radio nicht mehr eingeschaltet. Anfangs war es etwas ungewohnt, aber ich vermisste nichts. Ich hatte ja meine neue Mitbewohnerin. Inzwischen habe ich nicht einmal mehr das Bedürfnis es einzuschalten und überlege, es wegzuräumen, weil dann auf dem Schrank Platz für eine Blumenvase wäre. Ich lasse mit nicht mehr von meinem Radiowecker wecken sondern von meinem Telefon. Es schweigt, sobald ich aufgestanden bin. Alle Hintergrundgeräusche, die mir sonst so wichtig schienen, flohen vor ihr, als sie ihre Habe auspackte.

Meine neue Mitbewohnerin verlangt im Badezimmer keinen Platz für eine Zahnbürste. Sie lässt keine stinkenden Socken herum liegen. Ich musste im Kleiderschrank meine Pullover nicht zur Seite schieben. Sie beansprucht nur den leeren Raum um mich herum. Sie hört mir zu. Sie unterbricht mich nicht. Sie tröste meine Gedanken. Sie wärmt meine kalten Füße. Sie umhüllt mich. Sie verträgt sich mit meinen Katzen. Sie ist nur sie selbst: Die Stille in meiner Wohnung.

25
Sep
2009

Die richtige Einstellung

Ob der Tag nun schon fast vorüber ist? Ich habe gerade geduscht, mich angezogen, noch nicht gefrühstückt. Die Kaffeemaschine hat mir einen starken Muntermacher gebraut, im Schrank wartete das Müsli auf die Birne, die ich hinein schnipseln werde. Ich bin noch nicht zwei Stunden wache und frage mich, ob der Tag schon gelaufen ist?

Ein Profigospieler antwortete einmal auf die Frage, mit welchem Zug er die Partie verloren hätte: Mit dem ersten. Auf den ersten Blick ist das ein sonderbare Antwort. Beim Go ist das Brett vor dem ersten Zug leer. Anders als beim Schach, bei dem sich zu Beginn einer Partie die schwarzen und weißen Figuren gegenüberstehen, gibt es beim Go keine vergleichbare Ausgangssituation. Zu Beginn einer Gopartie existiert die Welt nicht. Das leere Brett ist das Nirvana, das die Spieler mit ihren Steinen füllen. Wie kann dann der erste Zug der Verlust der Partie bedeuten? Es gibt beim Go durchaus Züge, die ein erfahrener Spieler als ersten Zug nicht machen würde, weil sie ihn von Beginn an in eine defensive Position bringen oder dem Gegner es zu leicht machen eine gute Antwort zu finden. Ein Profispieler macht solche Züge nicht, erst recht nicht in einem Kampf um einen wichtigen Titel. Es ist daher schwer vorstellbar, wieso der erste Zug verlieren kann?

Bei Tic-Tac-To leuchtet es jedem ein, dass er das Spiel mit dem ersten Zug verlieren. Hat man ein paar Partie Tic-Tac-Toe gespielt, weiß man, dass man das erste Kreuz in das mittlere Feld setzen muss. Dann kann man gar nicht mehr verlieren. Allerdings ist das Spielfeld bei Tic-Tac-Toe sehr klein. Es hat nur neun Felder. Das Gobrett hat 361 Punkte ist also ziemlich genau 40 Mal so groß. Genug Möglichkeiten also einen Fehler im ersten Zug mit dem zweiten Stein wieder gut zu machen.

Der Profispieler kann also nicht den Zug an sich gemeint haben, wenn er sagt er, er hätte die Partie mit dem ersten Zug verloren. Er meinte die Einstellung, mit der er den ersten Zug machte. Sie war falsch. Er hatte einen falschen Plan für den Verlauft der Partie im Kopf. Er war zu angespannt, vielleicht übermotiviert, weil er unbedingt gewinnen wollte, vielleicht zu arrogant gegenüber seinem Gegner, weil er alle bis bisherigen Partien des Titelkampfes gewonnen hatte. Vielleicht hatte er auch einfach keine Lust Go zu spielen, wäre viel lieber spazieren gegangen. Oder er hatte Zahnschmerzen.

Ich esse jetzt mein Müsli, trinke zwei Tassen Kaffee, lese in der ZEIT, dann komme ich wieder hierher, um an meinem Roman zu schreiben, und hoffe, dass ich die richtige Einstellung habe, damit der Tag nicht wieder verloren geht.

10
Dez
2008

9000000000

9 neun

90 neunzig

900 neunhundert

9000 neuntausend

90000 neuzigtausend

900000 neunhunderttausend

9000000 neunmillionen

90000000 neunzigmillionen

900000000 neunhundertmillionen

9000000000 neunmilliarden

Ich versuche mich an eine Zahl heranzutasten, die mir seit Wochen nicht aus dem Kopf geht. Immer wenn ich die Tagesschau gucke, denke ich: 9000000000.

Um uns eine Vorstellund davon zu geben, was eine Million ist, brachte in der siebten Klasse mein damaliger Mathematiklehrer einen Bogen Millimeterpapier der Größe 1*1 Meter mit in den Unterricht. Dieser Bogen hatte eine Fläche von 1 Quadratmeter, was gleich 1 Million Quadratmillimeter ist. Die staunenden Schüleraugen sahen also auf diesem Bogen 1000000 kleine Quadrate. Wenn unser Lehrer uns die Zahl 9000000000 hätte zeigen wollen, hätte er 9000 dieser 1 Qudratmeter großer Bögen Millimeterpapier in den Unterricht bringen müssen, also eine wahrscheinlich mehrere LKW beladen mit Millimeterpapier. Ich weiß nicht, wie dick so ein Bogen ist. Sagen wir 1 Millimeter, das läßt sich leicht rechnen. Die 9000 Bögen Millimeterpaier ergäben einen 9 Meter hohen Stapel, also ungefähr bis zum vierten Stockwerk unseres Gymnasium. Vielleicht hätten wir alle diese Bögen in unser Klassenzimmer bekommen, für uns Schüler wäre dann aber kein Platz mehr gewesen.

Ich versuche mir 9000000000 vorzustellen. Die Zahl geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Nicht weil irgendeine bankrotte Bank so viele Euros aus dem Rettungsfonds der Bundesregierung bekommen soll, auch nicht weil vielleicht letztes Jahr so viel an Steuergeldern verschwendet worden ist, sondern ganz einfach, weil es irgendwann so viele Menschen geben wird. Im Jahr 2050 wird nach seriösen Schätzungen die Weltbevölkerung 9000000000 betragen.

Ich versuche mich an diese Zahl heranzutasten. Vielleicht gelingt es mir so. Wenn es eine Liste mit den Namen aller 9000000000 Menschen gäbe, die 2050 leben, und wenn jemand diese Liste laut vorlesen wollte und für jeden Namen 1 Sekunde bräuchte, dann dauerte sein Vortrag über 285 Jahre.

Heute leben auf der Erde ungefähr 6750000000 Menschen. Wenn ich die Bilder von den Ausschreitungen in Griechenland, den brennenden Hotels in Mumbai, dem Bürgerkrieg im Kongo, der Cholera-Epiddemie in Simbabwe in der Tagesschau sehe, dann denke ich: 9000000000.

Meine Lebenserwartung ist wahrscheinlich hoch genug, dass ich das Jahr 2050 erleben werde. Ich möchte auch so lange oder länger leben. Aber die Folgen der 9000000000 möchte ich nicht erleben. Ich möchte auch 2050 wie jetzt an meinem Schreibtisch sitzen, in einer gemütlichen und beheizten Wohnung, in einer sicheren Stadt, frische Luft atmen, sauberes Wasser trinken und von großen Zahlen träumen.

4
Okt
2008

Ein Herbstmärchen - Gedanken zum Nationalfeiertag

Ich habe meine Wohnung seit dem Aufstehen nicht verlassen. Ich bin noch nicht einmal in meinem Garten gewesen. Wie es sich für eine angehende Schriftstellerin gehört, habe ich an meinem ersten Roman gearbeitet und ein Interview mit Antanas, dem Protagonisten des Romans, geführt. Wir saßen auf einer Veranda und blickten in ein Schneeschauer. Antanas mag Schnee. Dieses Schneeschauer ist für ihn eine Art Metapher für seine unstillbare Sehnsucht.

Vielleicht hätte ich meine Wohnung verlassen, mich in ein Café setzen, die Leute beobachten und belauschen sollen. Hätte mich irgendwas an die Besonderheit des Datums erinnert? Wahrscheinlich nicht, nicht hier in Aachen. Wenn ich nicht wüsste, dass es mehr als irgendein gesetzlicher Feiertag, also mehr als irgendein arbeitsfreier Tag war, dass es der wichtigste gesetzliche Feiertag in unserm Land war: Ich hätte nichts davon gemerkt. Wenn ich um den Dom spaziert wäre, hätte ich an Antanas Sehnsucht gedacht. Vielleicht hätte ich mich gewundert, dass ich gerade heute etwas über seine Sehnsucht schrieb. Vielleicht hätte ich mich gefragt, ob Antanas Sehnsucht eine Spiegel meiner Sehnsucht ist. Als Autorin mache ich mir da nichts vor: Alles was ich schreibe, kommt aus mir und ist deshalb in irgendeiner Weise autobiografisch. Hätte ich mir gewünscht, dass es zu schneien beginnt, während ich am Elisenbrunnen auf den Bus wartete?

Ich sehne mich danach, dass ich gemerkt hätte, wie besonders der Tag war. Ich sehne mich nach Luftschlangen, Konfettiregen, bunten Luftballons, nach den Fanfaren von Festumzügen, nach Musik an jeder Straßenecke, nach feiernden Menschen in allen Städten. Und am meisten sehne ich mich danach, dass mir all dies selbstverständlich erscheint, nicht getrübt von einem schlechten Gewissen, als hätte ich es mein ganzes Leben so gemacht.

Wenn ich hätte feiern wollen, hätte ich nach Hamburg reisen müssen, denn dort im “Theater am Hafen” fand die zentrale Feierstunde statt. So was kann auch nur uns einfallen: zentrale Feierstunde. Jedes Jahr findet sie in einem anderen Bundesland statt, damit jeder Landesfürst einmal im Schein der Besonderheit des Datums glänzen darf. Wer Bilder die Bilder davon sieht oder beim Bericht darüber in der Tagesschau den Ton abdreht, fragt sich, was das für eine sonderbare Veranstaltung war. Die wichtigsten Persönlichkeiten saßen in der ersten Reihe. Alle trugen sie schwarz. Selbst unsere Kanzlerin, die zuweilen einen grünen oder roten Blazer trägt und weiland ein tiefes Dekolleté riskierte, erschien in schwarz. Wenn ein Amerikaner diese Bilder sieht, würde er nicht eher denken, sie stammen von einer Beerdigung?

Wen feiern sie in dieser zentralen Feierstunde? Wem gedenken sie? Ist es Eitelkeit oder Selbstbeweihräucherung, die sie dorthin treibt? Wer feiert mit denen, die einst riefen: “Wir sind das Volk!” Wer feiert mit denen, die sich heute auf die Zungen beißen, wenn sie daran denken, dass sie einst riefen: “Wir sind das Volk!”

Was sagt es über uns aus, wenn wir unser Land nur feiern. wenn 11 Leute im Endspiel hinter einem Ball her rennen und wir uns anschließend ein Sommermärchen erzählen? Warum erzählen wir uns nicht dieses Herbstmärchen, das im November 1989 begann, im Oktober 1990 endete und vom Sieg der Freiheit über die Tyrannei kündet? Ist uns das keine bunte, fröhliche, verrückte, ausgelassene bundesweite Feier wert?

6
Sep
2008

The Voice

Wenn ich die Stimme eines Menschen höre, den ich kenne, ohne ihm gegenüber zu sitzen oder ohne ihn zu sehen, dann sehe ich ihn trotzdem mehr oder weniger bewusst vor meinem geistigen Augen. Ich kann mir vorstellen, wie der Freund oder die Freundin gestikuliert. Ich weiß, wie sich die Stirn falltet, wenn der Freund die Stimme hebt, wie sich die Freundin die Lippen schürzen, wenn sie zwischen zwei Worten schnaubt, wie er schräg nach oben guckt, wenn er nach einer Formulierung such, wie sie sich mit einer Hand die Haare zupft, wenn sie etwas erzählt, das ihr peinlich ist. Von fast allen Menschen, die ich persönlich kenne, lernte ich ihr Gesicht zusammen mit ihre Stimme kennen. Wenn ich sie sprechen höre und sehe, löst das bei mir keine Irritation aus, weil ich beides nicht von einander trennen kann.

Gerade habe ich das Gesicht einer Stimme gesehen, die mich seit Jahren wegen ihrer Prägnanz in ihren Bann zieht. Es ist eine brüchige, dünne, etwas heisere Stimme. Ich habe mich nie gefragt, wie das Gesicht, dem diese Stimme gehört, aussieht. Das Gesicht, das ich am ehesten mit dieser Stimme assoziiere, gehört Robert DeNiro.

Die Stimme viel mir das erste Mal Anfang der 1990er Jahre auf. Damals begann ich Hörspiele im WDR zu hören. Auf Produktionen, bei denen diese Stimme mitwirkte, freute ich mich immer besonders. Ich hörte automatisch aufmerksamer zu. Sie zog mich tiefer hinein in die Lautsprecher. Ganz besonders eindringlich ist mir die Stimme in Erinnerung als die des Erzähler in einem dreiteiligen Hörspiel, das auf Island im frühen Mittelalter spielte, eine Nordlandsaga.

Als ich eben beim Zappen in einer Wiederholung der “Lesen!” Sendung von gestern landete, sah ich ihn das erste Mal. Elke Heidenreich besprach “Moby Dick”, diesen grandiosen Roman, den er in einem neuen Hörbuch komplett liest. Als ich in die Aufzeichnung schaltete, referierte die Heidenreich über den Roman. Neben ihr am Tisch saß ein Mann der mir irgendwie bekannt vorkam, ganz in schwarz gekleidet, mit grauer Krawatte, grauem Vollbart, grauen Haaren, die ihm dank Gel wie Borsten über der Stirn standen. Bestimmt irgendein Autor, dachte ich. Dann sprach er; und ich wusste sofort, wer er war: Das war also Christian Brückner. Ich war irritiert, obwohl ich seine Stimme schon so oft gehört habe; aber seine Gestik und Mimik wirkte irgendwie fremd, ungewohnt. Ich musste mich erst an diesen für Schauspieler typischen Gestus gewöhnen. Diese Stimme gestikulierte gar nicht wie Robert DeNiro. Diese Augen guckten gar nicht so wie ich erwartet hätte, zusammen wirkten dieser Mensch und diese Stimme sonderbar fremd, so ganz anders als ich ihn mir vorgestellt hatte, nein, ich hatte ihn mir ja gar nicht vorgestellt, sondern immer nur seine Stimme in verschiedenen Rollen gehört. Also hätte ich doch jetzt gar nicht irritiert sein dürfen. Ich hatte doch bis vor dieser Sendung kein Bild von dieser Stimme. Oder hatte ich doch eines? Wie habe ich diese Bild zusammen gesetzt? Und woraus? Wie sonderbar es doch ist einen Menschen das erste Mal zu sehen, dessen Stimme man seit Jahrzehnten kennt, der einem deshalb vertraut scheint.

Beim Schreiben dieses Beitag schlug ich in der Wikipedia nach, um herauszufinden, wem Christian Brückner außer Robert DeNiro noch seine Stimme lieh. Dabei hatte ich einen zweites Aha-Erlebnis. Mein persönlicher Titel für Brückner ist seit langem “The Voice”, weil ich seine Stimme so faszinierend finde, und dann las ich in der Wikipedia, dass Brückner Brückner “[...] aufgrund seiner äußerst prägnanten Stimme [...] auch „The Voice“ genannt” wird. Erstaunlich!

25
Aug
2008

Wieder Zuhaus

Von Klaus Lage gibt es das Lied “Wieder zuhaus”, in dem er die Gedanken eines Mannes beschreibt, der nach einigen Jahren in seine Heimatstadt zurück kehrt. Der Anfang des Refrains lautet “Ich bin wieder zuhaus // die Kirche ist nicht mehr so groß” Ich habe mich immer gefragt, was diese Zeile bedeuten soll: Dass die Kirche bzw. das, wofür sie steht, nicht mehr so Respekt gebietend ist? Dass er sich von den Meinungen und Wertvorstellungen der Kleinstadt nichts mehr vorschreiben lässt?

Oder ist der Satz wörtlich zu verstehen: Ist die Kirche tatsächlich kleiner geworden? Das ist nämlich mein Eindruck, wenn ich zu meinen Eltern fahre, in das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Dorf ist geschrumpft: Die Häuser sind kleiner, die Berge flacher, die Wege kürzer geworden. Als ich einmal nach über 15 Jahren den Weg von meinen Eltern zu Bekannten im Dorf ging, bei denen ich als Kind oft spielte, wunderte ich mich wie kurz dieser Weg war. Ich hatte ihn viel länger in Erinnerung. Schon das Nachbargrundstück schien schmaler. Ich hatte auch das Gefühl als Kind an mehr Häuser vorbei gegangen zu sein. Aber es fehlte kein Haus, kein Grundstück, es gab keine Baulücke, wo früher noch ein Gebäude gestanden haben könnte. Es waren genau die Häuser und Grundstücke, die ich seit meiner Kindheit kannte. Und doch kam mir alles irgendwie sonderbar geschrumpft vor. Woran liegt das? Ich kann es mir nur so erklären, dass es an meiner Körpergröße und an der Länge meiner Schritte liegt. Als Kind brauchte ich wahrscheinlich doppelt so viele Schritte wie als Erwachsener, weshalb mir die Entfernung dieses Weges heute nur noch halb so weit erscheint.

Am Wochenende besuchte ich meine Eltern. Meine Mutter feierte ihren 60. Geburtstag. Ich lebe seit fast zwanzig Jahren nicht mehr in dem Dorf, in dem ich aufwuchs. Noch kurz vor meinem Abitur glaubte ich, nicht in einer Großstadt leben zu können. Meine Heimatstadt hat ca. 25000 Einwohner. Heute wäre mir das fiel zu klein: Kein vernünftiges Kinoprogramm, kaum Kneipen und Restaurants, kein Theater, kein Sinfonieorchester, zum Shoppen fährt man am besten nach Hildesheim oder Hannover, also mindestens 30 Kilometer.

Wenn ich während der ersten Jahre, nach dem ich “von zuhause” fortging, mit dem Auto die Ortseinfahrt meines Heimatdorfes passierte, fühlte ich mich manchmal euphorisch. Ich freute mich jedes Mal wieder “zuhause” zu sein. Das ist schon lange nicht mehr so. Jetzt freue ich mich, wenn ich aus meinem Heimatdorf hinaus fahre, weil ich dann nach Hause fahre. Trotzdem benutze ich oft die Formulierung “nach Hause fahren”, wenn ich davon spreche, dass ich zu meinen Eltern fahre. Als ich letzte Woche mit meiner Schwester telefonierte, um einige Sachen wegen des Geburtstages meiner Mutter zu besprechen, fragte sie mich, wann ich nach Hause fahre, obwohl auch sie längst weit weg von unserem Heimatdorf lebt.

Seit einigen Tagen denke ich über die Begriffe „Zuhause“ und „Heimat“ nach. Was unterscheidet sie? Das Dorf, in dem meine Eltern seit ihrer Geburt leben, ist ihr Zuhause, war einmal mein Zuhause. Heute ist meine Zuhause Aachen und meine Wohnung, in der ich mit meinen Katzen lebe. Nach dem Telefongespräch mit meiner Schwester beschloss ich nicht mehr zu sagen „ich fahre nach Hause“, wenn ich zu meinen Eltern fahre. Das Dorf meiner Kindheit ist meine Heimat. Mein Zuhause ist dort, wo ich mich wohl fühle, wo ich lebe.

Das Konzept „Heimat“ scheint für mich nicht so bedeutend zu sein wie „Zuhause“. Weil ich meine Heimat - Deutschland? - nie verlassen habe? Wenn jemand singt: „Ich bin wieder zuhaus // die Kirche ist nicht mehr so groß // Ich bin wieder zuhaus
und doch es geht wieder los // Ich spür' die Blicke hinter den Gardin'n // die ham mir nicht verzieh'n“ - was bedeutet das? So wohl kann er sich dann ja Zuhause nicht gefühlt haben. Hat er seine Heimat verlassen und noch kein neues Zuhause gefunden? Für viele ist der Begriff Heimat wichtig. Warum? Ist nicht ein Zuhause viel wichtiger? Sehnt man sich nach der Heimat, wenn man sie - das erste Zuhause - verloren hat, ohne eine neues Zuhase gefunden zu haben? Braucht nur der eine Heimat, der kein Zuhause hat?

Ich war froh, als ich nach dem Abitur von Zuhause fort ging. Obwohl ich danach fast ununterbrochen in Aachen lebte, hat es Jahre gedauert, bis ich wieder Zuhause war.

3
Nov
2007

Das Mädchen am fernen Ufer

Seit einiger Zeit beobachte ich eine seltsame Entwicklung bei mir, mit der ich so nicht gerechnet hatte, als ich meinen Weg vom Mann zur Frau vor vier Jahren begann. Ich kann mich noch gut an ein Telefongespräch mit einer Freundin erinnern, als ich gerade dabei mich an meinen weiblichen Vornamen zu gewöhnen. Als ich damals ihre Nummer wählte, lebte ich glaube ich noch nicht als Frau, sondern ging noch als Mann zur Arbeit und lebte meine Weiblichkeit nur in der Freizeit. An den genauen Anlass des Anrufes erinnere ich mich nicht mehr, wahrscheinlich wollte ich mit ihr ins Kino gehen.

„Hallo, hier ist Heiko ... äh Sarah ... äh ...“, stammelte ich.

„Wer auch immer von euch beiden grade spricht“, antwortete sie amüsiert. „Schön, dass du anrufst. Worum geht’s?“

Heute habe ich natürlich keine Probleme mehr meinen Vornamen zu nennen. Manchmal streift mein alter Vorname mich wie Windhauch.

Während der ersten Jahre als Frau strengte ich mich an, wenn ich von mir in einer bestimmten Rolle sprach, immer die weibliche Form zu benutzen. Ich sprach von mir als Leserin, Theaterbesucherin, Spaziergängerin, Radfahrerin. In solchen Situationen musste ich mich anfangs konzentrieren, um jedes mal die Endung „-in“ an die Rollenbezeichnung anzuhängen. Einmal sprach ich mit einer Freundin darüber, sie sagte, dass ihr schon aufgefallen wäre, dass ich immer die weiblich Form für mich benutze. Sie würde das für sich nur selten machen, das sei ihr zu umständlich

Ich hatte an dieser Stelle schon einmal darüber geschrieben, was für ein sonderbares Gefühl es ist, wenn ich Fotos von mir als Junge oder Mann sehe. Als ich mich zu dem Wechsel entschloss, rechnete ich damit, dass es nicht immer leicht oder angenehm sein würde, meine männliche Rolle und die Spuren, die sie in meiner Vergangenheit hinterlassen hat, mit meinem jetzigen Leben in Einklang zu bringen, um so mehr staune ich über die Beobachtungen, die ich an mir in den letzten Woche machte.

Manchmal stelle ich mir vor, wie ich anderen von meiner Kindheit und Schulzeit erzähle. Es sind banale Gespräche, die ich mir ausmale, es geht in ihnen um normale Erfahrungen und Eindrücke, wie sie jeder macht. Wenn ich solche Gedanken formuliere, beginne ich die Sätze immer öfter mit „Als ich ein kleines Mädchen war...“ oder „Als Schülerin ...“, aber ich war nie ein kleines Mädchen oder eine Schülerin. Obwohl sie keine realen Erinnerungen spiegeln, kommen mir die Formulierungen zwanglos in den Sinn. Ich muss mich dafür nicht konzentrieren. Vielmehr kommen mir die entsprechenden männlichen Formulierungen unpassend vor. Ich hatte bisher immer angenommen, dass sich mein Frau-sein von dem Zeitpunkt an, seitdem ich als Frau lebte oder seitdem ich eine Frau bin, nur in meine Zukunft auswirkt, meine Vergangenheit oder meine Erinnerung aber nicht ändert.

Eine Lampe wirft in der Dunkelheit einen runden Lichtkegel um sich. Ich beginne zu ahnen, dass mein Wechsel eine Lampe ist, die ich einschaltete, um mit ihr nach vorn zu gehen, deren Licht und Wärme aber nun auch den Weg hinter mir bestrahlt.

Von meinem Boot aus schmeiße ich Steine in den See. Die Wellen breiten sich in alle Richtungen aus. Wenn ich mich umblickte, sehe ich, wie die Wellen an die fernen Ufer meiner Kindheit schwappen. Aus der verschwommenen Ferne winkte mir ein Mädchen mit langen geflochtenen Zöpfen zu.

22
Sep
2007

die letzte Sommernacht

Dies ist die offiziel letzte Sommernacht. Laut dem Internetwetter beginnt morgen um 11:51 der Herbst. Morgen soll es noch einmal warm werden. Vielleicht gönnt uns der Herbst eine erste laue Herbstnacht. Der Sommer war ja dieses Jahr eher schlecht gelaunt. Ich sitze auf der Terrasse in meinem Garten. Mir ist kalt (ein vertrautes Gefühl in diesem Sommer). Der Bildschirm meines Laptop beleuchtet seine Tastatur. Die Beschriftung der Tasten kann ich nicht erkennen, zum Glück kann ich blind maschineschreiben (wird das jetzt eigentlich getrennt, auseinander oder wie auch immer geschrieben) - ich lausche in die Nacht hinein, in diese letzte Sommernacht. Hinter den Häuser rattert ein Zug. Ich wohne noch nicht lange genug hier, habe noch nicht lang genug in die Nacht gelauscht, um sagen zu können, ob der Zug in Aachen einfährt oder Richtung Brüssel, Paris unterwegs ist. Ein Martinshorn erklingt. Irgendwo lacht eine Frau, jemand hustet. Dann ist da noch der Atem der Stadt, dieses unterschwellig Raunen, das von nirgendwo zu kommen scheint, in dem sich der Lärm der Autos mit der anderen Geräuschen vermengt. Die Vögel schlafen. Oder sind sie schon nach Afrika gezogen? Etwas flattert in einem Busch am Rand meines Gartens. Die Nachbarn sind noch einmal in den Garten gegangen. Ich kann sie nur hören nicht sehen, weil eine zwei Meter hohe Mauer die Grenze zwischen ihrem und meinem Garten bildet. Ich schaue nach oben - und verfluche die Stadt, die mit ihrem Licht den Nachthimmel verpestet. Ich wünsche mir einen Stromausfall, damit es dunkel genug wird, um die Stern zu beobachten. Über mir steht Cassopeia, das Himmels-W, zumindest glaube ich das, es würde zu Jahreszeit passen. Heute in der Mayerschen hatte ich das Himmelsjahr 2008 in der Hand. Früher kaufte ich mir das öfter. Diese Woche überlegte ich sogar mal wieder mir ein Teleskop zu kaufen, aber erstens bin ich noch immer pleite und zweitens hätte ich aus meinem Garten bei dem ganzen Lichtschmutz nur miese Beobachtungsbedingungen. Wie lange werde ich jetzt noch hier sitzen. Die Flasche Bionade (Ingwer-Orange) habe ich schon leer getrunken. Ich habe noch einmal zum Himmel geschaut. Nun glaube ich, dass über mir der Schwan seine Schwingen ausbreitet, mein Lieblingssternbild. Wenn man es mit dem Fernglas beobachtet sieht mit die Sterne der Milchstraße, Myriaden von Lichtpunkten, die man mit bloßem Augen nur als hellen Schleier wahrnimmt, wenn es dunkel genug ist. Irgendwann mache ich mal eine Reise in die Sahara, weil die Nacht dort so finster ist, dass man die Milchstraße sehen kann. Wieder quatschen die Nachbar in die Stille hinein. Wenn ich nicht so schwerhörig wäre, könnte ich sie belauschen. Es scheint ein politisches Gespräch. Ich höre die Worte "was wenn die Amerikaner ... nicht in Kroation ... Italien ist kein ... Staat ... die Italiener ... wenn Jugoslawien nicht gefallen wäre ... " Es sind Männer, die sich da unterhalten, im Hintergrund krakelt ein Kind. Die letzte Sommernacht. In irgendeinem Gedicht heißt es: Wer jetzt allein ist, wird es lange bleibe. Ich kenne das Zitat, aber nicht das Gedicht, wahrscheinlich eine Bildungslücke. Jetzt ist es plötzlich wieder still, als hätte jemand das Fernsehen ausgeschaltet, wahrscheinlich sind sie nur reingegangen und haben das Fenster geschlossen. Mir ist kalt. Der Friseur, der über mir wohnt ist nicht zu Hause, in seiner Wohnung ist es dunkel. Wahrscheinlich kommt er gegen 23 Uhr heim und dreht dann die Musik so laut, dass ich sie in meinem Bett hören kann. Wieder fährt ein Martinshorn durch die Straße, das dritte seitdem ich hier sitze und friere. In den oberen Wohnungen meines Mietshauses brennt Licht. Da sind sie, lesen einen Liebensroman, schauen die Berichte vom heutigen Bundesligaspieltag, höreb eine Symphonie von Sibelius (der starb an einen Tag dieser Woche vor fünfzig Jahren) oder sie haben Sex miteinander, hoffentlich guten. Ob auch sie wissen, dass dies die letzte Sommernacht ist? Meine Katzen streunen noch durch die Nachbargärten. Habe ich schon erwähnt, dass ich in Strümpfen hier sitze. Langsam kriege ich kalte Füße.

1
Aug
2007

Nicht genug Geld? Geduld!

Heute hörte ich im Radio auf WDR5 eine Reportage über die Situation des Strafvollzug für Jugendliche in England. Dass ich jetzt darüber schreibe, liegt nicht daran, dass mich die Missstände empören. Ich will nicht schreiben über die Zellen in den Jugendgefängnisse, die hoffnungslos überbelegt sind, nicht über die brutalen Zustände hinter den Gefängnismauer, die Neuankömmlinge dazu zwingen sich von der ersten Sekunde an Respekt zu verschaffen, weil sie ansonsten fertig gemacht werden, nicht über die Wärter, die sich nachts Häftlinge aus den Zellen holen, weil sie sich für Beleidigungen rächen wollen oder einfach nur schlechte Laune haben, nicht über den 16jährigen Asiaten, der mit einem mit weißen Jugendlichen in eine Zelle gesperrt war, der für seinen Rassismus bekannt war und seinen Zellgenossen wenige Stunden vor dessen Entlassung tot geschlagen hat, nicht über den hohen Anteil der jugendlichen Straftäter, die schwerste psychische Störungen haben und eigentlich behandelt denn eingesperrt gehören, darüber will ich nicht schreiben. Ich will darüber schreiben, welches Wort mir zu dem letzten Satz dieser Reportage einfiel. Den letzten Satz sprach eine englische Sozialarbeiterin: "Man könnte so viel machen, aber es ist nicht genug Geld da." Das erste Wort, was mir zu diesem Satz durch den Kopf schoss war: Tsunami.

Der Bargeld-Tsunami lautete vor kurzem der Titel eines Artikels in der ZEIT. In diesem Artikel wird beschrieben und analysiert, dass Welt in Geld schwimmt: Niemals zuvor in der Weltgeschichte wurde so viel Kapital um die Welt geschickt wie gegenwärtig. Auch darüber möchte ich nicht schreiben, denn das können die Autoren der ZEIT viel besser als ich. Wen es interessiert, der möge den Artikel lesen.

Ich schreibe diesen Beitrag, um die englische Sozialarbeiterin und alle anderen, die nicht genug Geld für humanitäre oder ökologische Projekte haben, zu trösten: Habt ein paar Jahre Geduld! Der Bargeld-Tsunami rollt über die Ozeane heran. Hört ihn rauschen! Seht seine riesigen Wogen! Er wird alles fortspülen.

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