Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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Persönliches

13
Aug
2007

Stöckchen-Spiel

Ja, Teufel noch mal, was ist denn das? Wo kommt das denn her? Liegt hier einfach im Weg. Leute, das könnt ihr doch nicht machen! Wenn da jemand drüber stolpert, der bricht sich vielleicht ein Bein oder schlimmer das Genick. Das ist gar nicht lustig, da braucht ihr gar nicht lachen, das ist alles schon vorgekommen. Ihr braucht nur die Zeitung aufschlagen. Jeden Tag berichten die von solchen Unglücksfällen. Nun gut ich räume es weg. Aber nur weil ihr es seid. Aber was ist das überhaupt? Ein Stöckchen, von einer Weide oder Ulme, gut eine Elle lang. Und schaut mal hier: Das ist ja was eingeritzt auf der Rinde. Was steht denn da:

"Nennen Sie acht Punkte, die man über Sie wissen sollte!"

Also so was! Ich wäre schon froh, wenn ich acht Dinge nennen könnte, die ich selbst über mich wissen sollte. Woher soll ich wissen, was andere über mich wissen sollten. Bin ich hier in einem Assessment-Center? Ich habe mich doch nirgends beworben. Ich will doch keinen anderen Job als meinen Brotberuf. Ich bin Schriftstellerin. Okay, so ganz stimmt das nicht, aber ich arbeite daran.

Ach, da hängt ja noch ein Zettel an dem Stöckchen. Hätte ich beinahe übersehen. Absender: Wally, und Mamü und ein paar andere, die noch nicht so gut kenne, haben auch eines bekommen. Dann bin ich also nicht zufällig über das Stöckchen gestolpert. Die Wally hat es extra für mich hier hingelegt. Seht ihr mal, das kommt davon, wenn man nicht regelmäßig das Internet aufräumt, dann bleibt so was liegen und andere fallen darüber. Ich war die letzte Woche aber auch etwas abgelenkt wegen meiner Lesung, die in ungefähr einem Monat ist.

Danke, Wally, ich nehme das Stöckchen an. Das wird aber wirklich schwierig. Acht Dinge, die andere über mich wissen sollten. Da muss ich erst mal überlegen.

1. Ich habe mir meinen Vornamen selbst ausgesucht.

Das ist einer der wenigen Vorteile, die man hat, wenn man wie ich als Junge geboren wurde und einem klar wird, dass man das eine Y-Chromosom gerne gegen ein zweites X-Chromosom tauschen würde: Man darf den Vornamen selbst wählen. Meine Eltern tauften mich Heiko. Welchen Namen sie mir gegeben hätten, wenn ich als Mädchen zur Welt gekommen wäre, weiß ich nicht. Das erste Mal nannte ich mich Sarah, als ich in dem Spiel Unreal nach dem Namen meiner Spielfigur gefragt wurde. Natürlich spielte ich als Frau. Das war drei Jahre vor meinen Coming Out. Ich mochte damals alte Namen. Ich überlegte, welche Namen aus der Bibel mir gefielen und kam so auf Sarah.

2. Ich verbrauche pro Jahr mindestens zwei Paar Schuhe.

Seit einem Unfall kurz vor meinem dritten Geburtstag bin ich behindert: Ich kann nicht richtig laufen. Wenn ich gehe, ziehe ich die Füße über den Boden, wodurch ich die Sohle an den Schuhspitzen abschleife. Es dauert in der Regel nur ein paar Monate, dann haben die Schuhe vorne Löcher. Wenn ich Löcher sage, dann meine ich auch richtige Löcher, solche wegen der man bei Regen nasse Füße bekommt. Einmal hatte ich Sportschuhe, die hielten fast ein ganzes Jahr, das war absoluter Rekord.

3. Ich habe nichts dagegen, wenn man mich nach meiner Behinderung fragt.

Ich wundere mich immer wieder, wie selten mich Menschen nach meiner Behinderung fragen. Wahrscheinlich scheuen die meisten vor einer Frage danach zurück, weil sie denken, dass die Frage zu persönlich ist. Natürlich ist die Frage persönlich. Ich meine nicht Leute, die mir beim Einkaufen im Supermarkt begegnen, oder flüchtige Bekannte, nein, ich spreche von Menschen, mit denen ich mehr zu tun habe, die sich mit der Zeit zu Freunden entwickeln. Jeder Mensch hat Geschichten, die er jedem erzählt. Die Geschichte meiner Behinderung ist eine meiner Geschichten. Wie ich sie erzähle, hängt von meiner Stimmung ab.

4. Ich mag Stehpartys nicht.

Die Leute stehen in Grüppchen zusammen, unterhalten sich angeregt. Man flaniert von einem Gespräch zum anderen. Ein Kellner bietet auf einem Tablett Sekt oder Orangensaft an. Eine Serviererin reicht Schnittchen. Auf ein paar wackeligen Tischchen kann man sein Glas abstellen. Auf eines dieser Tischchen werde ich mich wahrscheinlich stützen, weil ich nicht mehr stehen kann. Nach ungefähr einer halben Stunden wird stehen für mich anstrengend. Vielleicht gibt es sogar am Rand der Party vereinzelte Stühle. Aber wer möchte gerne abseits sitzen? Nein, auf Stehpartys kann ich verzichten.

5. Mein erste große Liebe war die Mathematik.

Eigentlich müsste ich über meine Liebe zur Mathematik einen separaten Beitrag schreiben und für die Königen der Wissenschaften eine Kategorie in meinem Weblog anlegen. Vielleicht ist Liebe auch zu pathetisch formuliert. Ich habe Mathe studiert, mit Begeisterung. In manchen Vorlesungen sass ich mit den staunenden Augen eines Kindes. Heute ist mein Verhältnis zur Mathematik abgekühlt. Trotzdem empfinde ich so etwas wie Ehrfurcht und Bewunderung, wenn ich an messbare Funktionen, den Satz von Bohman-Korovkin oder die Abgründe der Mengenlehre denke. Manchmal vermisse ich meine alte Freundin.

6. Ich teile meine Wohnung mit zwei Katzen.

Mera ist grauschwarzgetigert, mit einem weißen Latz und weißen Pfoten. Sansa ist schwarzgrau, mit weißen Unterfell. Sie sind Schwester und vier Jahre alt. Als ich sie aus dem Tierheim holte waren sie ein Jahr alt. Sansa springt beim Frühstück oft auf meinen Schoss und tretelt meinen Bauch. Mera legt sich abends zu mir ins Bett und vergräbt ihre Nase gern in meiner Achselhöhle. Während der ersten Monate, in denen sie bei mir waren, sprangen sie mir drei Mal mit gezückten Krallen ins Gesicht. Damals war kurz davor sie zurück ins Tierheim zu bringen. Heute kann ich mir ein Leben ohne meine Schätzchen kaum vorstellen. Wie oft schon habe ich mich gefragt, was in ihren Köpfchen vorgeht, wenn sie bei mir liegen und schnurren.

7. Ich spiele Go.

Go ist ein asiatisches Brettspiel. Seine Ursprünge liegen vor 4000 Jahre in China. Es gilt als das älteste Brettspiel der Welt. Ich habe es vor fünfzehn Jahren gelernt. Meine Spielstärke ist 4. Kyu, was ziemlich schwach ist. wenn man bedenkt wie lange ich es schon spiele. Mir hat es leider immer an Disziplin und Ausdauer gemangelt mich intensiver mit Go zu befassen.

8. Ich bin würde gern ein Musikinstrument spielen können.

Während der Grundschule lernte ich Blockflöte. Mit 16 Jahren wollte ich eine Gitarre haben, hatte aber keine Gitarrenlehrer. Stattdessen versuchte ich mir das Gitarre spielen selbst beizubringen. womit ich nicht sehr erfolgreich war. Ich habe nie in einer Band oder mit anderen gespielt. Heute würde ich gern Saxophon lernen. Dazu würde ich mir auch einen Lehrer nehmen. Leider fehlt mir dazu die Zeit: Schreiben ist mir wichtiger. Solange ich noch nicht vom Schreiben allein leben kann, werde ich mir kein Saxophon kaufen.

Puh, geschafft, war doch einfacher als ich dachte. Mir fallen jetzt natürlich noch viel mehr Dingen ein, die andere über mich wissen sollten.

Ich werfe das Stöckchen jetzt einfach in die Blogger-Gemeinde. Bin gespannt, ob es jemand fängt. Wäre schöne, wenn der Fänger einen Kommentar schriebe.

29
Jul
2007

Was ich noch sagen wollte

Als ich vorhin vom Fitness-Studio zurück kam, passierte etwas sonderbares. Ich stieg gerade die Treppen zu dem Haus, in dem ich wohne hinauf, stellte meine Taschen auf den Stufen ab und war froh, wie gut der kurze Weg vom bis hierher geklappt hatte. Nicht einmal hatte ich mich am Geländer fest halten müssen. Ich war die letzten Wochen ziemlich steif gewesen. Manchmal tat mir auch der rechte Fuss weh, wenn ich abends die Schuhe auszog. Ich machte mir auch Sorgen, wie mich meine Katzen begrüßen. Die waren bestimmt ausgehungert, weil länger als geplant im WOF war. Okay, eigentlich kein Grund sich zu sorgen, weil Katzen ja immer vorgeben zu verhungern. In solche Gedanken war ich versunken, während ich nach dem Haustürschlüssel suchte, als hinter am Straßenrand ein Wagen hielt. Als ich aus meinem Wagen gestiegen war, hatte ich keinen anderen bemerkt, der musste also gerade erst die Straße entlang gefahren sein. Vor meinem Haus ist absolutes Halteverbot. Ich überlegte kurz, wer da wohl hinter mir hielt. Wahrscheinlich ein Mitbewohner, dachte ich, oder jemand, der sich nach dem Weg erkundigen will. Der Motor verstummte, eine Autotür wurde zu geschlagen.

"Hallo, entschuldigen Sie!"

Ich war also nicht überrascht, dass mich der Fahrer ansprach. Ich drehte mich um und erblickte einen schlanken Mann, etwa meine Größe, schwarze Haare, Vollbart, etwa 40 Jahre alt. Er war mir unbekannt.

"Ich war am Donnerstag auf der Lousberg-Lesung", begann der Mann.

Am Donnerstag war die Lesung der Autoren der Barrockfabrik im Rahmen der "Leselust am Lousberg" hier in Aachen gewesen. Das Thema lautete "Korrespondenzen". Ich durfte meinen Text "ZEIT-Schnipsel" vortragen.

"Ich wollte Ihnen nur noch mal sagen, dass mir Ihr Text gefallen hat", fuhr er fort.

"Danke!" Ich war so erstaunt, dass ich nicht wusste, was ich ihm antworten sollte.

"Das war sehr lustig, was sie da vorgelesen haben." Er schien mir etwas verlegen zu sein. "Das wollte ich Ihnen nur noch mal sagen."

"Danke, das freut mich", antwortete ich. Ich überlegte, ob ich ihn zu meiner ersten eigenen Lesung im September einladen sollte, tat es dann aber doch nicht, weil ich mich ihm nicht aufdrängen wollte. Das war sicher keine professionelle Reaktion von mir, aber ich bin ja auch kein Profi. Jetzt bereue ich, dass ich die Gelegenheit, Werbung für meine Lesungen zu machen, nicht nutze.

Ich bedanke mich noch einmal bei ihm, lächelte ihn an. Er ging wieder zu seinem Wagen. Ich drehte mich wieder zur Haustür. Als er davon fuhr, betrat ich gerade den Hausflur.

Was war denn das gerade, fragte ich mich, während ich meine Wohnung betrat. Ich konnte es nicht ganz glauben. Da fuhr dieser Mann gegen 19:30 Uhr die Goethestraße entlang. Vielleicht war er auf dem Heimweg, kam wie ich vom Sport oder von einem Tagesausflug zurück. Oder war auf dem Weg zu einer Verabredung mit seiner Freundin, vielleicht wollten sie ins Kino gehen oder ins Theater oder in einem Restaurant essen. Ich weiß nicht, was er vorhatte. Eines bin ich mir aber sicher: Als er in die Goethestraße einbog, dachte er nicht an die Lesung auf dem Lousberg, nicht an meinen Text. Als er an meinem Haus vorbei, blickte er wahrscheinlich nur zufällig in meine Richtung, sah, wie ich gerade die Treppen hinaufstieg, erkannte mich wieder. 'Hey, das ist doch die Frau, die am Donnerstag auf dem Lousberg diesen tollen Text über die ZEIT gelesen hat', so was in der Art schoss ihm durch den Kopf. Dank meines auffälligen Gangbildes ist es nicht schwer, mich wieder zu erkennen, selbst wenn man mich nur von hinten sieht. In diesem Moment muss er das Bedürfnis gehabt haben, mir das zu sagen. Warum? Er überrumpelte mich und machte mich ein bisschen glücklich. Ein cooles Gefühl. Genauso das Gefühl, als mich nach der Lesung die beiden älteren Damen ansprachen. Der Texte habe ihnen sehr gefallen, ob man den Text schon irgendwo kaufen könne?

Nein, kaufen kann man den Text noch nicht.

21
Mai
2007

Eine Katastrophe?

Eigentlich wollte ich meinen nächsten Beitrag hier zu einem anderen Thema schreiben. Letzte Woche habe ich "Spider-Man 3", dazu wollte ich etwas schreiben. Oder dazu, wie ich in der 7. oder 8. Klasse meine erste große Liebe entdeckte. Damit jetzt niemand etwas falsches denkt: Meine erste große Liebe war kein Mensch, noch nicht einmal ein Lebewesen. Aber darüber will ich jetzt nicht schreiben.

Ich will über die Katastrophe schreiben, die sich am Sonntagnachmittag ereignete.

Gerade habe ich den Satz geschrieben, schon muss ich ihn revidieren: Die Katastrophe ereignete sich nicht am Sonntag. Ich weiß nicht, wann genau es geschah, aber entdeckt habe ich sie am Sonntagnachmittag. Ich vermute, dass es während meines Umzuges passierte oder als ich vor ein paar Wochen Altpapier in einen Container warf.

Ich hatte mich am Sonntag so darauf gefreut: Ich wollte endlich eine Geschichte schreiben, die mir schon länger durch den Kopf ging. Sie beruht auf einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 2005. Ich setzte mich zwei alten Tagebücher in meinen Garten. Vor mir auf dem Tisch breitete ich ein Block aus. Oben auf das Blatt schrieb ich den Titel der Geschichte "Liegenbleiben". Dann blätterte ich in meinen Aufzeichnungen. Schnell fand ich den Eintrag und notierte mir das Datum, um ihn später leichter wieder zu finden. Aber die Szene, die ich in diesem Eintrag skizzierte war nicht komplett. Ich wusste, dass zu dieser alten Frau, die morgends in ihrem Bett aufwachten, noch mehr geschrieben hatte. Ich erinnerte mich sogar vage an weitere Formulierungen. Ich hatte gedacht, die Szene an einem Tag beschrieben zu haben, was offenbar ein Irrtum war. Kein Problem dachte ich, dann blätter ich eben weiter. Das Tagebuch, in dem ich diesen Beitrag geschrieben hatte, reichte bis Mitte Juli 2005, also musste das weitere, an das ich mich noch erinnerte, später geschrieben haben. Ich schlug das nächste Heft auf, aber der erste Eintrag darin datierte in den März 2006, also ein knappes dreiviertel Jahr nach dem letzten Eintrag aus dem ersten.

Vielleicht ahnt ihr schon, worin die Katastrophe besteht. Ich ging zu meinen Nachtschrank, in dem ich alle meine Tagebücher aufbewahre, um das zu holen, in welches ich von Juli 205 bis März 2006 schrieb. Ich fand es nicht: Es ist weg! Und mit ihm die Aufzeichnungen zu der Geschichte, die ich am Sonntag endlich schreiben wollte. Ich bin absolut sicher, dass ich von Juli 2005 bis März 2006 Tagebuch geführt habe, dass ich etwas darüber geschrieben habe, wie sie die alte Frau, während sie in ihrem Bett liegt, währen ihre Gelenke schmerzen, an ihren verstorbenen Mann dachte. Die Sätze schwebte zwischen dem Grab ihres Mannes und ihrem Bett. Als weg! Mist!

Ich weiß, dass ist sicherlich keine Katastrophe. Andere habe größere Probleme. Schalke ist nicht deutscher Fussballmeister geworden. In Afganisthan sind bei einem Bombenanschlag drei deutsche Soldaten ums Leben gekommen. In Afrika hungern die Menschen. Das Klima auf der Erde spielt verrückt. Die Buckelwale sterben aus, wahrscheinlich auch die Eisbären. In Japan schneidet ein sechzehnjähriger seiner Mutter den Kopf ab, trägt ihn in einer Plastiktüte durch Tokyo und übergibt ihn der Polizei. Das sind Katastrophen. Und ich lamentiere, weil ich ein Schreibheft verloren habe.

Eine Stunde durchsuchte ich am Sonntag meine Wohnung nach diesen blödem Heft.

Nun klafft eine Lücke in meinen Tagebuchaufzeichnungen, ein Teil meines Lebens ist verschwunden, was eigentlich nicht so schlimm wäre. Es gibt größere Lücken. Jahrelang führte ich kein Tagebuch, weil ich es irgendwann nicht mehr ertrug immer die gleichen Klagen auf die Seiten zu kritzeln. Aber der Zeitraum, den ich jetzt vermisse, umfasst die Monate vor meiner geschlechtsangleichenden Operation. Ich war damals sehr ruhig, ich zweifelte nicht an meiner Entscheidung für die Operation. Ich hatte keine Angst. Ich wartete auf Zweifel und Ängste. Obwohl ich mich nicht an tiefschürfende Gedannken aus dieser Zeit erinnere, hätte meine Aufzeichnungen von damals gern für später aufbewahrt.

Nun bleibt mir nichts, als mich zu ärgern: Über den Verlust dieser Gedanken und dieser wunderbaren Geschichte von dieser alten Frau.

26
Apr
2007

Ein altes Foto

Es ist immer wieder ein komisches Gefühl, wenn ich meine Eltern besuche. Zwischen deren und meinem Wohnort liegen ungefähr 360 Kilometer oder vier bis fünf Stunden Fahrt, je nachdem wie sehr ich rase und wie verstopft die Autobahnen sind. Dazwischen liegt aber noch viel mehr: mein Wechsel vom Mann zur Frau. Ein Besuch bei meinen Eltern ist eine Reise in die Vergangenheit. in ein anderes Leben, mein altes Leben. Mehr oder weniger ständig werde ich damit konfrontiert. So auch jetzt gerade in diesem Moment, da ich in meinem alten Jungendzimmer sitze, in dem jetzt der Schreibtisch meiner Mutter steht, und an ihrem Rechner diese Zeilen tippe. Neben dem Monitor steht ein Bilderahmen, in dem zwei Fotos stecken: eines von meiner Schwester und ein kleineres von meiner Schwester und - ich zögere, dieses Personalpronomen zu schreiben - mir. Auf dem Foto hockt ein ungefähr 26 jähriger Mathematikstudent vor meiner Schwester, sie hat beide Hände auf seine Schultern gelegt: Wir lächeln in die Kamera. Der Student trägt ein grüngemustertes Hemd, das einmal eines meiner Lieblingshemden war, und Hosenträger. Er hat die Haare zu einem Zopf zusammen gebunden. Als ich vorhin den Rechner anschaltete, fiel mein Blick auf dieses Foto. Ich nahm es vom Regal, um es nähern zu betrachten. Der Typ auf dem Foto, der ich selber einmal war, kommt mir seltsam fremd vor. War ich das wirklich einmal? Ja, das war ich. Ich kann mich erinnern, dass meine Schwester und ich das Bild damals kurz vor Weihnachten in der Wohnung machten, in der sie mit ihrem damaligen Freund wohnte. Wir schenkten es unseren Eltern zu Weihnachten. Als ich es eben in die Hände nahm, schoss mir spontan der Wunsch durch den Kopf diesen Typen aus dem Foto zu schneiden. Aber das geht natürlich nicht. Es hätte auch gar keinen Sinn, denn dann müsste ich ihn auch aus allen anderen Fotos, die bis vor vier Jahren von mir gemacht wurden, herausschneiden; ebenso aus meinen Erinnerungen, aus denen meiner Schwester, meiner Familie, meiner Freunde, eine so scharfe Schere werde ich nicht finden, ich suche auch gar nicht nacht ihr.

Morgen feiert mein Großvater seinen 80. Geburtstag. Es wird eine große Feier. Angeblich sollen bis zu 120 Personen eingeladen worden sein. Wieder so eine Reise in die Vergangenheit: Mein Großvater wird mich mit meinem alten Vornamen anreden, wie die meisten der eingeladenen Gäste auch.

20
Apr
2007

Weg mit ihm!

Noch hockt er bei mir in der Wohnung, schielt missmutig aus einer Ecke heraus zu mir auf mit aufgerissenem Gesicht. Ob er mir wütend ist? Ob er ahnt, dass ich mich von ihm trennen werde. Es ist noch nicht einmal seine Schuld. Sein rechteckiges Auge, das sein ganzes Gesicht ausfüllt, bleibt dunkel. Früher sah ich stundenlang durch sein Auge hinaus in die Welt, aber nun reizt mich sein Flimmern nicht mehr. Ich bin von ihm entwöhnt. Die Kur dauerte nur ein paar Wochen, in denen ich mir unsicher war, ob ich es nicht doch vermissen würde. Aber nun weiß ich es: Ich brauche ihn nicht mehr! Weg mit ihm!

Von wem ich rede? Von meinem Fernseher.

Als ich letztes Jahr in meine neue Wohnung zog, wusste ich, dass die Empfangsmöglichkeiten nur sehr begrenzt sind. Selbst mit einer Zimmerantenne empfange ich nur ARD, ZDF und WDR, aber auch nur mit so viel Rauschen, dass ich eigentlich sagen müsste: Ich empfange keine Programme. Anfangs hatte ich überlegt, einen Kabelanschluss zu mieten oder mir eine Satellitenschüssel zu kaufen, konnte mich aber nicht so recht aufraffen mich darum zu kümmern. Was hätte ich auch davon gehabt? Die Möglichkeit 40 Programme oder mehr empfangen zu können, von denen höchsten zehn ab und zu mal etwas sehenswürdiges senden, reizte mich nicht. Trotzdem behielt ich meinen Fernseher. Im Herbst soll in Aachen das digitale Fernsehen empfangen werden können. So lange wollte ich ursprünglich warten, um zu testen, ob sich meine Empfangsmöglichkeiten dadurch verbessern. Aber je länger mein Fernseher ungenutzt in der Ecke stand, desto mehr störte er mich.

Gestern habe ich ihn bei Ebay eingestellt. Weg mit ihm! Es reicht! Genug Zeit zum Schreiben, Lesen, Musik hören oder andere sinnvolle Tätigkeiten.

Fernsehen ist scheiße!

18
Feb
2007

Laub harken

Ist Laub harken spießig? Das habe ich mich heute gefragt, als ich heute in meinem Garten zum zweiten Mal Laub geharkt habe. Eigentlich lebe ich nach der Devise, dass diejenigen spießig sind, die es nötig haben, andere als spießig zu bezeichnen. Also sollte ich ohne Hintergedanken meiner Gartenarbeit nach gehen. Wenn ich aber an Laub harken denke, baut sich in meiner Vorstellung automatisch das Bild eines älteren Mannes auf. Er hat einen Zigarillo im Mund und auf dem Kopf trägt er einen verschlissenen Filzhut mit einem Gamsbart. Er stützt auf seinen Rechen. Die Rasenfläche, auf der er das Laub zusammen kratzt, ist kurz geschnitten, nicht ein Gänseblümchen wagt sich darauf, ein englischer Rasen also, den er peinlich pflegt. Eilig hat er es nicht, aber gründlich ist er. Wenn er am Ende des Nachmittages mit seiner Arbeit fertig ist, wird nicht ein Blatt auf seinem Rasen liegen. Dieses Klischee ging mir heute Nachmittag durch den Kopf, während ich in meinem Garten arbeitete.

Es ist mein erster Garten und ich weiß absolut nicht, welche Tätigkeiten im Februar in einem Garten anfallen. Ich habe mit dem Laubharken angefangen, weil es die naheliegendste Arbeit war. Die große Buche, die an einer Ecke meines Gartens steht, hat ihr Laub überall verteilt. Drei Säcke voll mit Laub und Eckern habe ich zusammengescharrt. Dabei habe ich eine interessante Entdeckung gemacht: Es machte mir einigermaßen Spass. Ich kann mir inzwischen sogar vorstellen, mich regelmäßig ein paar Stunden um den Garten zu kümmern.

Mein Rechen blieb immer wieder an Efeu hängen, das über den Boden wuchert und an Zäunen und Mauern hoch rankt. Das störte mich und ich beschloss eine Gartenschere zu kaufen, um damit den größten Teil des Efeus wegzuschneiden. Mein Garten hat das glaube ich nötig, denn der Vormieter scheint nicht viel Zeit in die Pflege des Gartens investiert zu haben. Ich will einen schönen Garten, allerdings habe ich noch keine detailierte Vorstellung, wie er einmal aussehten soll. Laubharken war der erste Schritt, der zweite wird wohl sein, das Efeu und die anderen Sträucher zurück zu schneiden. Wenn ich mit der Gartenschere das Gestrüpp stutze, wird sich warhscheinlich der dritte Schritte ergebnen.

24
Sep
2006

Wer war der Junge?

Niemand weiß mehr, was der kleine Junge dachte in dem Moment, als er am Rande des Schachtes stand und hinunter schaute, oder warum er sich weiter vor beugte, wonach er spähte. Dieser Junge von nicht ganz drei Jahren, der ich damals war. Ich kann mich nicht mehr an diesen Jungen erinnern. Er stürzte hinunter, fiel zweieinhalb Meter tief, schlug mit dem Kopf auf leere Bierkästen oder Bierfässer und schrie und blutete nicht. Keine offene Wunde am Kopf. Später im Verlauf der Kindheit des Jungen, der ich durch diesen Unfall geworden bin, sagte meine Mutter immer, wenn ich mal wieder auf stur schaltete: "Typisch Widder! Immer mit dem Kopf durch die Wand!" Ich habe mich nie als stur empfunden. Ob dieser kleine Junge damals stur war?

Die Platte, die den Schacht bedeckte war zur Seite geschoben worden, weil die Brauerei das Leergut, das dort unten lagerte, abholen und dem Restaurant meiner Großeltern neue Getränke liefern sollte. Vielleicht machte der Bierfahrer Pause oder er klönte mit Hans dem Bäcker. Der kleine Junge war neugierig, er stand am Rande dieses Schachtes und schaute hinunter und beugte sich vor und bekam das Übergewicht. War es ein sonniger Tag? Nicht weit von dem Schacht stand ein Wallnussbaum, der muss wohl noch kahl gewesen. Der Unfall passierte irgendwann im Februar. Ich weiß es nicht. Der Junge wüsste es vielleicht, aber er blieb unten liegen, obwohl sie ihn herauftrugen aus dem Schacht. Der Schacht konnte über den Keller betreten werden. Sie trugen den Jungen durchs Treppenhaus nach oben. Aber wer? Meine Mutter? Mein Vater sicher nicht, der arbeitete damals schon bei der Post oder an dem Neubau unseres Hauses, er war früher Maurer gewesen. Wer war der Junge gewesen?

Er schrie und blutete nicht. Sie riefen keinen Arzt. Am Nachmittag wachte der Junge nicht aus dem Mittagsschlaf auf, lag besinnungslos in seinem Bettchen. Im städtischen Krankenhaus zeigte das Röntgenbild ein Blutgerinsel im Kopf des Jungen. Irgendwo auf der Fahrt nach Göttigen ins dortige Universitätskrankenhaus, während die Polizei mit Blaulicht voraus raste, verlor sich die Spur des Jungen. Die Ärzte öffneten den Schädel, entfernten das Blutgerinsel. Sieben Wochen später wachte ich aus dem Koma auf. Dem kleinen Jungen, der damals am Rande des Schachtes stand und hinunter schaute und das Übergewicht bekam, bin ich nie wieder begegnet.

Seit diesem Unfall bin ich gehbehindert. Mein Behindertenausweis vermerkt als Grad der Behinderung 80% und "die Notwending ständiger Bleitung ist nachgewiesen". Das hört sich dramatischer als es wirklich ist. Wie ich zu diesem Beisatz gekommen bin, weiß ich nicht. Ich führe ein normales selbständiges Leben. Meine Behinderung bedeutet nur, dass ich nicht richtig laufen kann, es sieht nicht so leicht und locker wie bei den meisten von euch aus. Kinder drehen sich nach mir um, früher sagten sie zu ihren Eltern: "Guck mal, wie der Mann geht"; heute dagegen: "Wie geht die Frau denn?" Das tut gut, ich mein, das sie mich als Frau erkennen.

Früher habe ich nie viel über diesen Jungen nachgedacht. Für mich beginnt mein Leben in dem Moment, als ich aus dem Koma erwachte. Je mehr ich zur Frau wurde, desto öfter fragte ich mich, ob dieser Junge schon von der Frau träumte, die ich heute bin, ob er sie vielleicht dort unten am Boden des Schachtes zu finden glaubte. Ich weiß es nicht. Diese Frage wird immer ein intellektuelles Gedankenspiel bleiben.

11
Sep
2006

5 Jahre

Wie vor fünf Jahren mein Tag begann, weiß ich nicht mehr, genauso wenig, an welchem Projekt ich damals arbeitete, was es in der Kantine zu essen gab, worüber ich und meine Kollegen beim Mittagskaffee sprachen oder welches Obst ich für den Nachtmittag mitgenommen hatte. Aber ich weiß noch genau, wie ich damals davon erfahren habe. Irgendwann zwischen 16 und 17 Uhr schaute Boris in mein Büro und fragte ich mich, ob ich es schon wüsste, ein Flugzeug wäre ins World Trade Center geflogen, Spiegel Online wäre total überlastet und der Server zusammengebrochen. Er war bleich, sprach leise, vielleicht sagte auch etwas anderes, vielleicht dass irgendeine Katastrophe in New York passiert sei. Ungefähr ab diesem Zeitpunkt wird meine Erinnerung klarer. Ich versuchte noch Spiegel Online anzusurfen, war aber vergeblich. Dann fuhr ich nach Hause. Im Auto hörte ich den Deutschlandfunk. Ruhige Musik, vielleicht auch Trauermusik, und Berichte, Berichte, Kommentare, Berichte, Berichte. Erst nach ein paar Minuten konnte ich mir zusammen reimen, was passiert war. Zuhause sass Gerd, mein damaliger Mitbewohner, vorm Fernseher, bis 20 Uhr schaute ich die Berichte im Fernsehen. Gerd hatte Besuch vom einem Freund bekommen, sie saßen in der Küche und überlegten, ob sie ins Kino gehen sollten, "Der Schuh des Manitu", platt genug um sich abzulenken.

Es war Dienstag, Go-Spieleabend im Meisenfrei, ich überlegte, ob ich hingehen oder zu Hause bleiben sollte. Aber ich hatte schon so viele Bilder gesehen, dass ich nicht mehr davon sehen wollte. Überhaupt hatte ich mich schon im Zynismus behaglich eingerichtet: Dass die nicht schon früher darauf oder auf etwas ähnliches gekommen waren, hatte ich damals tatsächlich gedacht, und dass das Leben weiter geht, dass mein Mitgefühl für die Amerikaner nicht so gross sei, dass ich in Deutschland weit weg von allem sei. Als ich das meisenfrei betrat, liefen im Fernsehen natürlich noch die Bilder aus New YorK. Ein paar Besucher hockten davor, tranken Bier, fassungslose Gesichter und Kommentare, aber eigentlich ein normaler Kneipenabend.

Ein paar Tage später berichtete Massud, der damals ein Kollege von mir war, dass Bekannte von ihm den Anschlag begrüsst hätten, dass es nach deren Meinung den Amerikanern recht geschehe und dass er sie deshalb am Telefon zusammen geschissen habe, wegen des Unsinns den sie reden würden.

Vieles ist seit dem geschehen. Damals war ich ein anderer. Ich habe meinen Namen geändert, mein Geschlecht. Heute bin ich eine andere. Heute habe ich ein dreistündiges Feature auf WDR 5 über den 11. September gehört. Dabei spülte ich das Geschirr der letzten Tage, bemühte mich möglichst leise zu sein, um nichts von dem Feature zu verpassen. Eigentlich hätte ich eine Freundin anrufen müssen, um ein Treffen zu verschieben, das wir am Nachmittag per SMS verabredet hatten. Ich konnte mich nicht von den Geschichten losreißen. Ich lauschte gebannt, fassungslos, wie vor fünf Jahren.

2
Apr
2006

Was ist Alkoholismus?

Wisst ihr, was Alkoholismus ist?

"Ja, natürlich", sagt ihr. "Das ist, wenn jemand süchtig nach Alkohol ist, wenn jemand seine Sorgen und Nöte im Alkohol ertränkt und dann nicht mehr von der Flasche los kommt."

Ihr wisst gar nichts!

Könnt ihr Alkoholismus einen Namen gegen?

Bei mir heißt Alkoholismus "Mücke". So wird mein Lieblingsonkel, der Bruder meiner Mutter, von allen genannt. Als Kind habe ich ihn niemals mit "Onkel Manfred" angeredet, immer nur "Mücke". Mücke ist einige Jahre jünger als meine Mutter, wieviel genau, habe ich vergessen, ich denke es sind um die zehn Jahre. Wie Mücke zu diesem Spitzname gekommen ist, weiß ich auch nicht so genau, wahrscheinlich weil er als Baby und Kind klein und schmächtig war.

Wenn ich an Mücke denkt, fällt mir immer dieselbe Geschichte ein. Ich ging noch zur Grundschule. Ich hatte damals einen Freund, der Michael hieß und ein rotes Rennrad fuhr. Einmal versteckte Mücke zusammen mit einem Angestellten meiner Großeltern das Rennrad auf einem Flachdach, das zu dem Hotel meiner Großeltern gehörte. Als Michael bemerkte, dass sein Rad verschwunden war, taten Mücke und der Angestellten als wüssten sie von nichts, sie verarschten Michael eine Weile, flunkerten ihn an und ließen ihn nach seinem Rad suchen. Irgendwann entdeckte Michael das Rad auf dem Dach, er musste es selbst herunterholen, während Mücke und der Angestellte sich wegen des gelungenen Streichs amüsierten. An solchen Streichen und Flunkereien hatte Mücke seine Freude.

Diese Erinnerung ist kostbar, denn von dem Menschen, der einmal Mücke war ist nicht viel übrig geblieben. Als ich heute mit meiner Mutter telefonierte, fragte ich mich das erste Mal, ob er überhaupt noch ein Mensch ist, und erschrank deswegen.

Mein Onkel säuft seit fünfzehn Jahren. Schon vor seinem ersten Zusammenbruch ahnte ich es, verstand es aber nicht oder wollte es nicht wahrhaben - wie alle in unserer Familie. Ich sah wie er sich ein Bier zapfte und dabei am ganzen Körper zitterte. Nach seinem ersten Zusammenbruch, das war vor ungefähr fünfzehn Jahren kam er für einige Wochen in eine Klinik für Suchtkranke. Anfangs hofften wir, er würde vom Alkohol loskommen. Einige Jahre soff er vor sich hin, die Ehe ging in Brüche. Viele aus meiner Familie haben mit ihm gesprochen, versucht ihn zur Vernunft zu bringen, glaubten sie könnten es schaffen. Selbst ich dachte das eine Zeit lang, dass ich ihn mir mal "zur Brust nehmen müsste" (ausgerechnet ich!). Es hat lange gedauert, bis ich begriff, das ich koabhängig war.

Aber eigentlich wollte ich das alles gar nicht erzählen, sondern dass, was meine Mutter mir heute den Tränen nah am Telefon erzählte.

Vor eineinhalb Jahren bekam mein Onkel Zungenkrebs. Letztes Jahr im Mai wurden ihm Teile der Zunge weggeschnitten. Seitdem kann er kaum sprechen und schlucken. Er hat einen Eingang für künstliche Ernährung. Seit einem halben Jahr säuft er wieder. Er steigt durch Fenster in die Kneipe meines Großvaters ein, klettert über Schränke, die er dabei fast aus den Wänden reißt, um irgendwie an Alkohol zu kommen. Ich glaube, er ist vor Jahren dabei einmal durch ein Glasdach gestürzt und hat sich dabei fast die Pulsadern aufgeschnitten.

Vor kurzem brachte meine Mutter meinen Onkel ins Krankenhaus, weil er wieder einen totalen körperlichen Zusammenbruch hatte. Während er auf einer Trage lag, warteten sie auf einen Arzt. Das erzählte meine Mutter heute am Telefon, ihre Worte, so gut ich die erinnern kann:

"Dann kam die Ärztin, eine Polin war das, ...

Die fragte ihn: 'Wie lange trinken Sie schon?'

Er hob fünf Finger.

'Wochen', fragt sie, er nickte.

'Nein', sagte ich, 'seit fünf Monaten, säuft der wieder.'

'Was trinken Sie?', fragte die Ärztin.

'Bier aus Eimern und Steinjäger', sagte ich.

Dann fragte die Ärztin: 'Wie trinken Sie?'

Er sah die Ärztin an, ich glaube er verstand sie gar nicht mehr. Sein Hemd war besudelt, fleckig. ... Er trinkt den Alkohol nicht, er kippt ihn sich über den Schlauch, mit dem er sich künstlich ernähren kann in sich hinein. Als ich das der Ärztin erzählte, wär' die fast ausgerastet."

Das ist Alkoholismus!

22
Mrz
2006

Parkplatzdieb

Noch bevor ich Dich auf dem Bürgersteig sah, hörte ich Dich: "Scheiße!" Da wussste ich, dass Du kommst. Du tratst aus Richtung Innenstadt in die Aussicht meines Wohnungsfenster. Auf dem Kopf trugst Du eine eine schwarze Schirmmütze mit irgendeiner Aufschrifft, die Dir wahrscheinlich selbst nicht so wichtig war, ein eine schwarze Lederjacke hattest. In der Hand hielst Du eine Plastiktüte oder einen Karton, so genau habe ich das nicht gesehen, darauf stand glaube ich Märklin, weshalb ich dachte, dass Du bei diesem Eisenwarenhändler um die Ecke warst, der auch Zubehör für Modelleisenbahnen verkauft. Du sasst aus wie ein großes Kind, das sich eben ein neues Spielzeug gekauft hatte. Dein Gesicht glich dem eines vollbärtigen Bibers, du warst dick.

Dann schautest Du von der Straße in meine Wohnung. Ob Du vorher auf mich gezeigt oder mir zu gewunken hast, habe ich vergessen. Ich stand vom Tisch auf und ging auf Dich zu. Ich wusste ja, was Du wolltest, ich hatte auf Dich gewartet. Als Du sahst, wie ich gehe, hobst Du beschwichtigend beide Hände.

"Ist das Ihr roter Wagen."

"Ja!"

"Tut mir leid, ich hab' das Schild überhaupt nicht gesehen" Du sagtest das so unschuldig, dass Du mir beinahe Leid tatest. Warum seht Ihr alle das Schild mit Rollstuhl darauf nicht, das mir einen Behindertenparkplatz reserviert. An drei von vier Tagen steht abends, wenn ich von der Arbeit komme an Wagen auf diesem Parkplatz. Auch Deinen Wagen ließ ich abschleppen. Mein Bedauern deswegen hält sich in Grenzen. Ich ärgere mich über das bisschen Beddauern, das ich deswegen empfinde.

"Können Sie mir die Nummer von Abschleppunternehmen geben?"

"Strang, 70 51 30", sagte ich durch das geschlossene Fenster.

Du holtest Dein silbernes Handy hervor, wältest die Nummer. Ich ging zurück zu meinem Abendbrot und beobachtet Dich. Nachdem Du mit Strang telefoniert hattest, blicktest du mich an.

"180 Euro", sagtest Du. Ich zuckte mit den Schultern, Du auch; das war nicht meine Schuld, was sollte ich sonst machen.

Du führtest noch zwei weitere Gespräche, dabei lehntest Du Dich mit dem Rück gegen den Sims. Ich aß weiter. Als ich wieder aufschaute, warst Du verschwunden.

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