Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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3
Nov
2006

Die tote Katze III

Die Frau lehnte sich in dem Sessel zurück blickte den Arzt an, der ihr gegenüber saß. Sie hatte die Beinen übereinander geschlagen. Der Saum ihres kurzen Jeansrockes war über das Knie gerutscht. Der Fuß des übergeschlagenen Beines wippte auf und ab. Ihre geblümte kaminrot farbene Bluse sie nicht in den Rock gesteckt, sondern die unteren Enden der beiden Hälfte vor dem Bauch zusammen geknotet. Beide Arme lagen auf den Lehnen ihres Stuhl. Die Fingernägel waren blau lackiert. Sie schien sich nicht sonderlich für ihr gegenüber zu interessieren, weil sie den Kopf in den Nacken legte, so dass ihre langen roten Haaren hinter dem Stuhl fast den Fußboden berührten, und schloss die Augen.

„Wie heißen Sie?“

„Wie oft soll ich ihnen das noch sagen.“ Sie antwortete, ohne ihre Position zu verändern. „Ich weiß es nicht.“

Dr. Julius Zacharias faltete die Hände und bemühte sich so ruhig wie möglich zu bleiben. Er war der Chefarzt der Station, auf der die Frau seit gestern Abend lag.

„Sie scheinen, dass ja nicht sehr ernst zu nehmen.“

„Sie glauben mir nicht.“

„Was würden sie in meiner Situation denken.“ Zacharias war eigentlich Notfallmedizer, mit psychologischen Erkrankungen kannte er sich nicht so aus, und eigentlich interessierten sie ihn auch nicht besonders. „Ich möchte noch einmal zusammenfassen: Vor ein paar Tagen findet ein Autofahrer sie, als sie aus einem Wald heraus ihm um fünf Uhr morgends vor den Wagen rennen. Er kann gerade noch bremsen, bevor er sie über den Haufen fährt. Sie torkeln ein paar Schritte weiter und brechen bewusstlos auf dem Asphalt zusammen. Der gute Mann bringt sie in dieses Krankenhaus. Wir stecken sie erst mal ins Bett, weil sie unterkühlt und durchnäßt sind, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, in welchem Aufzug sie Anfang November durch die Gegend rennen. Nachdem sie fast 36 Stunden geschlafen haben, wachen sie plötzlich auf, steigen aus dem Bett und wollen einfach so davon rennen. Ein paar Pfleger können sie gerade noch aufhalten.“

Zacharias machte eine Pause, um die Wirkung seines Berichtes abzuwarten. Welches Spiel spielte diese Person mit. Litt sie wirklich unter Gedächtnisverlust wie sie vorgab? Es fiel ihm schwer das zu glauben. Sie machte auf ihn ein kühlen und berechnenden Eindruck. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlte, wenn er sich nicht mehr an seinen Namen erinnern konnte, während er ihr provozierendes Schweigen abwartete. In sich spürte er den unwiderstehlichen Drang aufzustehen und dieser Personen ein paar kräftige Ohrfeigen zu geben. Wenn er sicher wäre, dass dies seiner Patientin hülfe, täte er das sicher auch. Er hatte in seiner 30jährigen Karriere schon bittere Pillen verabreicht. Aber er war unsicher, woher der Drang kam sie schlagen zu wollen. Der therapeutische Grund war nur ein Aspekt. Tatsächlich machte die Frau ihm auf einen unheimliche Art Angst. Die Gleichgültigkeit mit der sie die Amnesie hinnahm, machte ihm Angst. Für ihn persönlich wäre es das Schlimmste, wenn er seinen Namen oder sonst etwas über sich vergessen hätte. Ohne Zweifel war diese Angst vor dem Verlust der eigenen Identität normal, und der größte Teil der Bevölkerung teilte sie mit ihm. Wer wäre er denn, wenn er seinen Namen nicht mehr wüsste. Noch nicht einmal ein Niemand, nicht mehr der angesehene Leiter der Notfallchirurgie des Krankenhaus, nicht mehr der Besitzer eines teuren Hauses. Er hätte keinerlei Bedeutung und niemand beachtete ihn. Das war seine größte Angst, Bedeutungslosigkeit, und diese Angst hielt ihm die Frau mit ihrem Verhalten unter die Nase, als wollte sie sagen: „Scheiß auf deinen Wagen, dein Geld, deinen Erfolg! Egal wie viel du davon hast, du bist ein Nichts!“ Er wollte nichts weiter als diese Angst zur Seite zu schlagen.

„Wozu sie bestimmt kein Recht hatten“, sagte die Frau nach einer Weile.

Zacharias brauchte einen Moment, bis er verstand, was sie meinte. Er hatte länger geschwiegen als beabsichtigt hatte.

„Bis auf einige Abschürfungen an Armen und Beinen sind sie unverletzt“, fuhr er fort. „Auch mit ihrem Kopf scheint soweit ich das bis jetzt beurteilen kann, alles in Ordnung zu sein.“

„Dann geben sie mir doch einfach meine Sachen und lassen mich gehen.“ Sie sah ihn jetzt direkt in die Augen. „Ihnen kann es doch egal, ob ich weiß, wer ich bin.“

„Welche Sachen?“

„Na, mein Geld natürlich.“

Ihr Satz ließ Zacharias fast jubeln, jetzt konnte er es ihr zurückzahlen: Sie hatte sich verraten.

„Sie hatten nichts bei sich.“ Er lächelte ein bisschen zu sehr, das wusste er, konnte aber seine Freude nicht unterdrücken. „So wie sie hier vor mir sitzen, hat sie der Fahrer bei uns abgeliefert, mit nicht mehr oder weniger Sachen als sie in diesem Moment an haben.“

Ein Nichts, ein niemand sind sie, dachte er.

„Das kann nicht sein!“, stammelte sie. „Ich ...“

„Wollen sie mir immer noch, weiß machen, sie wüssten ihren Namen nicht?“, triumphierte Zacharias.

„Bitte! Glauben Sie mir!“, flehte sie. „Ich weiß es wirklich nicht!“

Wie sehr sich die Frau von einem Augenblick auf den nächsten verändert hatte, schockierte Zacharias. Ihre Selbstsicherheit, die sie bisher ausgestrahlt hatte, war verschwunden.

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