Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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4
Nov
2006

Die tote Katze V

„Dann heißen sie also von nun an Anna.“

Anna flüsterte den Satz, den Doktor Zacharias gesagt hatte, während sie in der Fensterbank ihres Krankenzimmer hockte und nach draußen schaute. Sie hatte die Stirn gegen die Scheibe gelehnt und folgte mit einem Zeigefinger den Spuren, die die Tropfen hinterließen, während sie am Fenster herunter rannen. Der Satz klang wie eine Taufe. Einwenig kam sie sich wie ein Taufkind vor, ein Wesen ganz am Anfang seines Lebens, das soeben seinen Namen erhalten hatte, wie ein Buch das es nun mit seinen Träumen, Ängsten und Plänen voll schreiben konnte. Wie alt ist ein Kind, wenn es getauft wird? Wie alt war sie? Ihr war durchaus bewusst, das der Doktor ihr nicht glaubte, dass die Drohung sie an die Polizei zu übergeben nach wie vor über ihr schwebte wie ein Unwetter. Aus irgendeinen Grund hatte sie sich gefürchtet als Zacharias die Polizei erwähnt hatte. Wie ein spotanes Gefühl war diese Furcht über sie gekommen, so als blende sie plötzlich ein Sonnenstrahl während sie durch ein Wald spazierte. Wald auch so ein Wort, das sie als Drohung empfand.

Sie streckte beide Arme vor sich aus, spreizte die Finger. Blau. Blau lackierte Fingernägel. Warum hatte sie sich für diese Farbe entschieden. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie in ihrem Badezimmer sass, das Fläschchen Nagellack auf dem Rand des Waschbeckens stand, sie den kleinen Pinsel immer wieder hinein tunkte und ihre Nägel lackierte. Blau. Mein Badezimer, mein Waschbecken, mein Kloh, auf dem ich dabei sitze, dachte sie. Was bedeutet das? Blau. Mein Badezimmer? Waren die Kacheln in ihrem Badezimmer blau? Hing einen blaues Handtuch an dem Halter über der Badewanne? Mein Badezimmer? Sie hielt es für unmöglich, dass sie in einem anderen Zimmer ihrer Wohnung als dem Badezimmer ihre Fingernägel lackiert hatte. Natürlich, es hätte rein theoretisch auch ein anderer Raum sein können: sie hätte am Küchentisch sitzen können, während sie darauf wartete, dass der Kaffee kochte; oder im Wohnzimmer, während sie die Tagessschau sah; oder im Schlafzimmer, während sie die 2. Sinfonie von Sibelius hörte. Aber es gibt Dinge, die wusste sie, ohne dafür eine Gedächtnis zu brauchen, in dem diese Dinge als Erinnerungen abgespeichert waren. Sie würde sich die Fingernägel immer im Badezimmer lackieren; dessen war sie sich sicher. Sie. Ich. Gab es einen Unterschiede zwischen dieser Person, deren Erinnerungen sie verloren hatte, und dieser Anna, die sie nun war und deren Buch vor ihr aufgeschlagen war und darauf wartete, beschrieben zu werden. Was würde mit dieser Person geschehen, wenn sie tatsächlich damit anfinge, sich selbst als Anna zu konstruieren. Anna. Wie war sie auf diesen Namen gekommen? Warum war ihr gerade dieser Name eingefallen? War das ihr richtiger Namen, ein letzter Rest der verlorenen Erinnerungen?

Sie sah hinunter auf den Platz vor dem Krankenhaus, es wurde langsam dunkel, die Straßenlaternen waren schon angesprungen. Die Straße, die zum Eingang führte, war eine Allee gesäumt von Ahornbäumen. Der Wind strich durch die Wipfel, riss an den Blättern, die aber noch stand hielten. Sie wunderte sich, wie lange die Bäume in diesem Herbst grün blieben. Leuchtete früher nicht jede Krone im Oktober schon golden. Waren das die ersten Vorboten der globalen Klimaveränderung. Die Gedanken rauschten durch ihren Kopf. Was alles wusste sie? Bäume, die im Oktober ihr Laub verloren; globale Klimaveränderungen, die dazu führen konnten, das Küstenstädte in Fluten versanken. Woher wusste sie das alles? Hatte es irgendwas mit ihr zu tun? Gab es irgendwas, das sie denken konnte, das sie auf die Spur ihrer Vergangenheit führte.

Es hatte aufgehört zu regnen. Ein Taxi hielt vor dem Krankenhaus, der Fahrer stieg aus, um einer alten Dame aus dem Wagen zu helfen. Die Frau trug einen schwarzen Pelzmantel, ein weiten Rock und graue Stiefel. Der Fahrer reichte der Frau einen Regenschirm, der auf dem Rücksitz gelegen. Sie bedankte sich bei dem Mann und fasste den Schirm unschlüssig am Knauf an, während sie nach oben in Annas Richtung blickte, die sich einen Moment einbildete, die Frau hielt nach ihr Ausschau, aber sie schüttelte nur den Kopf und wohl nur durch einen kurzen Blick zum Himmel fest stellen wollen, ob wieder zu regnen beginnen würde. Sie ging zum Eingang und wartete dort einige Minuten. Gelegenlich schaute sie auf die Armband und ging vor der Pförtnerloge ein paar Schritte auf und ab.

Anna beobachtete die Frau neidisch. Sie schätzte ihr alter auf ungefähr siebzig, war sich aber wegen der Entfernung und der Dunkelheit nicht sicher. Die Frau strahlte eine ungeheure Selbstsicherheit, oder jedenfalls schien es Anna so. Für die Frau schien das Warten etwas normales oder langweiliges zu sein. Ganz im Gegensatz zu Anna, die das Warten in ihrem Zimmer als etwas beunruhigendes empfand. Sie wusste nicht worauf sie wartete. Sie schaute auf den Weckter, der auf ihrem Nachttisch tickte. Es war viertel nach fünf. Wenn sie sich an den gewöhnlichen Tagesablauf in einem Krankenhaus richtig erinnerte, müsste in ein paar Minuten das Abendessen verteilt werden. Für einen Moment lenkte sie der Gedanke ab, dass sie auf das Essen wartete. Es gab ihrem Warten eine Richtung, eine Sinn, und verdrängte das Gefühl ihren vorbei ziehenden Gedanken ausgeliefert zu sein. Unbewusst prüfte sie jeden Gedanken danach, welches Wissen über sie er enthielt oder er sie ein Stückchen auf dem Weg zu ihren Erinnerung leiten konnte. Als sie wieder hinunter auf den Platz blickte, umarmte die alte Frau einen jungen Mann, hakte sich bei ihrem Begleiter unter und betrat mit ihm die Eingangshalle des Hospitals. Ihr warten hatte sich gelohnt.

Anna rutsche aus der Fensterbank und setzte sich an einen schmalen Tische, der vor dem Fenster stand. Sie blätterte durch eine Frauenzeitschrift, die sie sich von einer der Schwesterschülerinnen geliehen hatte. Sie überflog die Berichte über die letzten Erlebnisse der Prominenten. Boris Becker war mit seinem jüngsten beim Einkaufsbummel in München beobachtet worden, eine unbekannte, brünette, auffällige junge Frau begleitete ihn. Die Reporterin stellte Mutmaßungen darüber an, welche Bedeutung die Frau für den Ex-Tennisprofi habe. Es beruhigte Anna, dass auch andere Leute nicht alles wussten. Die meisten Artikel überflog sie. Sie erkannte Tom Cruise, Jennifer Lopez, die Königin von Holland und ging in Gedanken die Namen ihrer Kinder durch. Irgendwann schlug sie die Illustrierte zu und warf sie in den Mülleimer. Sie hatte genug davon, sich selbst immer wieder von neuem zu beweisen, an was sie sich alles erinnern konnte, das nichts mit ihr zu tun hatte. Wo nur das Essen blieb?

Sie ging zum Waschbecken, das vom Rest des Zimmer durch einen Vorhang abgeschirmt war, ließ kaltes Wasser hinein und wusch sich das Gesicht. Vielleicht sollte sie Doktor Zacharias vorschlagen, das man sie abwechselnd mit kalten und heißen Wasser abspritzen sollte. Sie glaubte sich zu erinnern, dass solche Wechselbäder früher zum Standard in Behandlung von Geistenkranken waren. War sie das denn nicht? Verrückt, irre. Doktor Zacharias hatte behauptet, dass ihr körperlich nichts fehle, also musste sie geisteskrank sein, wie sonst war ihr Gedächtnisverlust zu erklären. Da kam ihr ein Gedanke: Vielleicht hatte der Arzt etwas übersehen, als er sie untersuchte, vielleicht hatte sie doch irgendeine Verletzung, die als Ursache für ihren Zustand dienen konnte?

Sie lief zum Fenster und zog die Vorhänge zu, dann begann sie sich auszuziehen. Wahllos verteilte sie die Kleidungsstücke in dem Zimmer. Die Schuhe schleuderte sie unter den Tisch, die Socken landeten in dem Wasser im Waschbecken, den Rock warf sie über den Stuhl. Als sie den Knoten der Bluse löste, riss einen Knopf ab, der unter das Bett kullerte. Den Slip ließ sie einfach zu Boden rutschen, den BH hängte sie über das Bettende. Ihr war kalt, als sie vollkommen nackt im Zimmer stand. Im Schneidersitz hockte sie sich auf das Bett und fing an ihren Körper zu untersuchen. Sie tastete ihre Unterarme ab, massierte die Oberarme, rieb sich mit den Händen das Gesicht ab, zog an den Ohrläppchen und stellte dabei erstaunt fest, dass sie keine Löcher für Ohrringe hatte, sie zog an den Strähnen ihrer Haare, dass sich einige heraus riss, drückte die Handflächen auf den Bauch, boxte sich in den Unterleib, nahm ihre Brüste in die Hände, ließ die Finger über die Brustwarzen gleiten. Sie streckte die Beine aus, spreizte sie auseinander, beugte sich so weit vor, wie sie nur konnte, untersuchte die Poren ihrer Haut, zählte die blauen Flecken auf den Oberschenkel und presste den Daumen hinein, bis ihr fast die Tränen kamen; sie schob die Schamlippen auseinander, steckte mehrere Finger in die Scheide, sie streichelte ihre Klitoris, genoss einen Moment das Gefühl, stöhnte, fand aber in der Erregung keine Ruhe; Anna kratzte Hornhaut von ihren Fußsohlen und ließ die Krümel durch die Finger auf die Bettdecke rieseln, aber auch in den Zwischenräumen der Zehen fand sie keine Verletzung. Dann schnüffelte sie alle Körperteile ab, die sie mit der Nase erreichen konnte. Vielleicht dünstete irgendeine Pore ihres Körper einen verdächtigen Geruch aus. Anna schob die Nase über die Ober- und Unterarme, roch unter beiden Achselhöhlen, die glatt rasiert waren, roch an ihren Brust, beugte sich wieder vorn über und ließ die Nasenlöcher über die Oberschenkeln hinunter zu den Waden gleiten, schließlich bohrte sie mit jedem ihrer Finger in den Nasenlöcher, sog die Luft ein; dann leckte sie die Popel ab, die unter ihren Fingernägeln klebten, um in deren salzigen Geschmack irgendetwas zu finden. Als sie die Popel ausspukte, fiel ihr ein, dass der Geschmack ihres Körpers ungewöhnlich sein, und begann sie sich abzulenken, jeden Finger einzeln, dann wieder zuerst die Unter- und die Oberarme, sie versuchte ihren Bauch abzulecken, stellte aber enttäuscht fest, dass sie den mit dem Mund nicht erreichen konnte; Anna leckte ihre Beine ab wieder erst den Ober- dann den Unterschenkel, sie griff nach den Füßen, zog sie zum Kopf und lutschte an den großen Zehen; Anna biss sich in einen Handrücken, dass es schmerzte, und beobachte wie das weiße Bissmusster verblaste, und zum Schluss stopfte sie ein Hand so weit in Mund, dass sie den Würgereflex auslöste, sie fing an zu röcheln, ließ sich rückwärts auf Bett, sie schnaufte, aus Atem, die Bauchdecke hob und senkte sich wie eine Blasebalg. Die Arme lagen ausgestreckt neben Körper, sie drehte den Kopf hin und her. Sie fing an zu weinen. Tränen liefen über ihr Gesicht, als die Krankenschwester, von der Anna sich die Illustriete geliehen hatte, kurz an die Tür klopfe und einfach eintrat, als Anna nicht antwortete.

„Hallo, sie sind bestimmt total ausgehungert.“, sagte sie, als sie mit dem Abendessen das Zimmer betrat, verstummte aber abrupt, als sie Anna nackt und heulend auf dem Bett liegen sah. Ein Moment war sie ratlos, wie sie reagieren sollte, dann ging sie zu dem Tisch und stellte das Tablett darauf ab. Danach setzte sie sich neben Anna auf das Bett und streichelte ihre Wangen.

„Na, was ist denn? Ist es so schlimm? Kann ich ihnen irgendwie helfen?“

Anna richte sich auf und wischte sich Tränen aus den Augen.

„Wer bin ich?“, schniefte Anna. „Sagen sie mir, wer ich bin!“

„Tut mir leid“, antwortete die Pflegerin, die ungefähr so alt wie Anna war, und nahm sie in den Arm. „Das kann ich nicht, das weiß ich nicht.“

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