Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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24
Sep
2006

Wer war der Junge?

Niemand weiß mehr, was der kleine Junge dachte in dem Moment, als er am Rande des Schachtes stand und hinunter schaute, oder warum er sich weiter vor beugte, wonach er spähte. Dieser Junge von nicht ganz drei Jahren, der ich damals war. Ich kann mich nicht mehr an diesen Jungen erinnern. Er stürzte hinunter, fiel zweieinhalb Meter tief, schlug mit dem Kopf auf leere Bierkästen oder Bierfässer und schrie und blutete nicht. Keine offene Wunde am Kopf. Später im Verlauf der Kindheit des Jungen, der ich durch diesen Unfall geworden bin, sagte meine Mutter immer, wenn ich mal wieder auf stur schaltete: "Typisch Widder! Immer mit dem Kopf durch die Wand!" Ich habe mich nie als stur empfunden. Ob dieser kleine Junge damals stur war?

Die Platte, die den Schacht bedeckte war zur Seite geschoben worden, weil die Brauerei das Leergut, das dort unten lagerte, abholen und dem Restaurant meiner Großeltern neue Getränke liefern sollte. Vielleicht machte der Bierfahrer Pause oder er klönte mit Hans dem Bäcker. Der kleine Junge war neugierig, er stand am Rande dieses Schachtes und schaute hinunter und beugte sich vor und bekam das Übergewicht. War es ein sonniger Tag? Nicht weit von dem Schacht stand ein Wallnussbaum, der muss wohl noch kahl gewesen. Der Unfall passierte irgendwann im Februar. Ich weiß es nicht. Der Junge wüsste es vielleicht, aber er blieb unten liegen, obwohl sie ihn herauftrugen aus dem Schacht. Der Schacht konnte über den Keller betreten werden. Sie trugen den Jungen durchs Treppenhaus nach oben. Aber wer? Meine Mutter? Mein Vater sicher nicht, der arbeitete damals schon bei der Post oder an dem Neubau unseres Hauses, er war früher Maurer gewesen. Wer war der Junge gewesen?

Er schrie und blutete nicht. Sie riefen keinen Arzt. Am Nachmittag wachte der Junge nicht aus dem Mittagsschlaf auf, lag besinnungslos in seinem Bettchen. Im städtischen Krankenhaus zeigte das Röntgenbild ein Blutgerinsel im Kopf des Jungen. Irgendwo auf der Fahrt nach Göttigen ins dortige Universitätskrankenhaus, während die Polizei mit Blaulicht voraus raste, verlor sich die Spur des Jungen. Die Ärzte öffneten den Schädel, entfernten das Blutgerinsel. Sieben Wochen später wachte ich aus dem Koma auf. Dem kleinen Jungen, der damals am Rande des Schachtes stand und hinunter schaute und das Übergewicht bekam, bin ich nie wieder begegnet.

Seit diesem Unfall bin ich gehbehindert. Mein Behindertenausweis vermerkt als Grad der Behinderung 80% und "die Notwending ständiger Bleitung ist nachgewiesen". Das hört sich dramatischer als es wirklich ist. Wie ich zu diesem Beisatz gekommen bin, weiß ich nicht. Ich führe ein normales selbständiges Leben. Meine Behinderung bedeutet nur, dass ich nicht richtig laufen kann, es sieht nicht so leicht und locker wie bei den meisten von euch aus. Kinder drehen sich nach mir um, früher sagten sie zu ihren Eltern: "Guck mal, wie der Mann geht"; heute dagegen: "Wie geht die Frau denn?" Das tut gut, ich mein, das sie mich als Frau erkennen.

Früher habe ich nie viel über diesen Jungen nachgedacht. Für mich beginnt mein Leben in dem Moment, als ich aus dem Koma erwachte. Je mehr ich zur Frau wurde, desto öfter fragte ich mich, ob dieser Junge schon von der Frau träumte, die ich heute bin, ob er sie vielleicht dort unten am Boden des Schachtes zu finden glaubte. Ich weiß es nicht. Diese Frage wird immer ein intellektuelles Gedankenspiel bleiben.

17
Sep
2006

Vorlagen

"Kann ich Ihnen helfen?"

Emma zuckte zusammen, als sie unvermittelt eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie mochte es nicht ungefragt berührt zu werden. Erst recht nicht von einer Verkäuferin, die ihre Tochter hätte sein können, oder nein ihre Enkelin, korrigierte sie ihren Gedanken, als sie dem jungen Ding in die Augen schaute.

"Haben Sie diese Bluse auch in Größe 44/46" Emma nahm eine rote Seidenbluse aus dem Regal, die ihr einigermaßen gut gefiel. Der Blick der Verkäüferin huschte an Emma herab, so rasch, dass er kaum wahrnehmbar war. Trotzdem war ihr nicht entgangen wie die Mundwinkel des Mädchens verächtlich nach unten zuckten. Dir können wir hier nicht helfen, sagte diese Mime aus, was an sich Emma nicht gestört hätte, aber es gefiel ihr nicht, wenn Verkäuferinnen sie duzten. Denn es gab diesen feinen Unterschied zwischen einem Gesicht, hinter dessen Stirn die Gedanken im höflichen "Sie" formuliert worden, und einem, das die Höflichkeit fallen ließ und das herablassende "du" benutzte.

"Da muss ich erst mal im Lager nach gucken"

Das junge Ding stakste nach hinten. Unter einem weißen Minirock wippten die Hüften. Emma wandte sich zu einem der Spiegel. die zwischen den Kleiderständern standen. So schlecht sah sieh heute wirklich nicht aus. Sie zupfte ein paar graue Strähnen zurecht und spürte in ihrer Blase ein leichtes Ziehen. Es war also wieder soweit. Die Boutique schien keine Kundentoilette zu haben, aber zum Glück ging es auch so.

"Tut mir leid. Die Bluse haben wir nur noch in 36 und 38"

Natürlich in welchen Größen auch sonst. Für manche Geschäfte schien geradezu unvollstellbar, dass auch etwas fülligere Kundinnen bei ihnen etwas kaufen wollte.

"Dann nehm ich sie in 36", entgegnete Emma.

Dann Blick der Verkäuferin weitete sich, als sei sie unsicher, ob sie richtig gehört hatte.

"Für meine Enkelin", fuhr Emma fort und ging voraus zur Kasse. Der Druck in ihrer Blase wurde stärker, wovon sie sich nicht irritieren ließ. Als die Verkäuferin die Bluse einpackte war es soweit. Emma machte sich in die Hose, pardon in die Vorlage, eine der segensreichsten Erfindungen. Sie lächelte die Verkäuferin an. Wenn du wüsstest, dass ich mir gerade in die Hose pinkle. Emma spürte wie es zwischen ihren Beinen warm wurde. Sie schämte sich nicht deswegen. Warum auch? War es nicht das natürlichste auf der Welt? Sie stellte sich vor, was für ein Theater das junge Ding machen würde, wenn sich in ihrem weißen Röckchen plötzlich ein gelber Fleck ausbreitete. Dann würde sie bestimmt nicht mehr so von oben auf Emma herabschauen.

"Vielen Dank für ihren Einkauf!"

Die Verkäuferin reichte Emma die Tüte. Die war doch nur froh, dass Emma endlich den Laden verließ. Aber auch die würde irgendwann in Emmas Alter kommen.

16
Sep
2006

magische Bilder

Erinnert ihr euch noch an diese magischen Bilder, die vor ein paar Jahren in Mode waren und in den Buchläden in Massen auslagen. Auf den ersten Blick zeigten die Bilder nur Gekrissel oder ein sich wiederholendes Muster. Wenn man aber länger drauf schaute, oder nein, wenn man durch das Bild hindurch starrte, erschien in dem Bild auf wundersame Weise ein dreidimensionales Objekt. Ein andere Möglichkeit in den zwei Dimensionen die dritte zu finden war, das Bild zunächst dicht vor die Nase zu halten, durch die Seite hindurch blicken und dann das Bild langsam von sich Weg bewegen. In den Schaufenstern mancher dieser Steh-Im-Weg- oder Staubfänger-Geschäften hingen große Poster solcher Bilder im Schaufenster. Ich kam mir dann immer ziemlich komisch vor, wenn ich meine Nase erst dicht vor die Scheibe hielt und dann ein paar Schritte zurück ging, um die dreidimensionale Abbildung zu sehen.

Heute sieht man in den Läden Bücher mit diesen Bilder nur noch selten. Angeblich sind die Bilder schädlich oder gefährlich für Epileptiker. Jedenfalls meinte eine Freundin das mal, als wir uns über die Bilder unterhielten. Sie hatte in ihrer Wohnung ein ungefähr ein-mal-ein Meter große magisches Bild hängen, schwarzweiß, die dritte Dimension habe ich darin nicht wirklich gefunden.

Als ich heute an einer Bushaltestelle wartete, kam es mir vor als sähe ich so ein magisches Bild. Ich ließ meinen Blick in die Ferne schweifen, was mitten in einer Großstadt an einer Hauptverkehrsstraße schwierig ist, denn dort gibt es eigentlich keine Ferne. Zu beiden Seiten der Straße versperren Wohn- und Bürohäuser den Blick. Der Horizont liegt versteckt hinter den Fassaden. Um den Himmel zu sehen, muss man den Kopf in den Nacken legen. Während ich zur der Bushaltestelle ging, blickte ich nicht wie meistens leicht nach schräg unten vor mir auf den Fussweg sondern geradeaus die Straße hinauf, konzentrierte mich nicht auf irgendein Ding, ließ die Autos an mir vorbei fahren, mich nicht von einem Verkehrsschild ablenken, sah die ganze Straße aufeinmal. Es geschah etwas sonderbares. Alles schien ein Stückchen auseinander zu rücken, ewas größer zu werden, so wie eine Zeichnung auf einem Ballon, wenn man ihn aufbläst. Das Gefühl, das ich dabei hatte, ähnelte dem, als sähe ich in einem magischen Bild die dritte Dimension, als schaute ich durch die Straßen, die Häuser, die Autos, die Verkehrsschilder, die Menschen hindurch, hinter alles, ich sah zwar alles klar, aber nichts einzeln, sondern alles auf einmal, ohne etwas zu fokussieren, als schwebe über der Szenerie etwas geisterhaft unsichtbares, nicht greifbares, wie das dreidimensionale Objekt vor einem magischen Bild.

Wahrscheinlich denken jetzt einige von euch: "Hey, gibt es zu du warst einfach nur stoned." Nein, war ich nicht, ich kiffe nicht. Ich komme mir selbst verrückt vor, während ich das hier schreibe. Ich versuche nur diese sonderbare, angenehme Gefühl, diese Augenblick des weiten Blicks irgendwie zu beschreiben. Jetzt im Moment fällt mir ein anderer Vergleich für das Gefühl und den optischen Eindruch ein. Nämlich die Szene aus "Matrix I" als Neo am Ende des Films die Welt als an ihm vorbeirauschende Matrix wahrnimmt, als er die Kugeln, die die Wächter auf ihn abfeuern, mit einer Handbewegung aufhält und zu Boden fallen läßt. Nein, natürlich habe ich die Matrix nicht geshen, die gibt es nicht, obwohl, aber das ist ein anderes Thema. Ich versuche nur Worte für einen Moment zu finden.

12
Sep
2006

Scheiterhaufen sind schön

"Hör auf! Hör auf", krächzte die heisere Stimme von unten herauf. "Ich kann dein Jammern nicht mehr ertragen!"

"Aber es tut heute ganz besonders weh!", brummte die Antwort von oben herab. "Diesmal ist ein schwerer Brocken, viel schwerer als die anderen zuvor."

"Die alte Leier", beklagte sich das Krächzen. "Jedes Mal sind sie schwerer als vorher. Ich kann es einfach nicht mehr hören. Wenn ich mir nur die Ohren zu halten könnte."

"Was hast du denn schon groß auszuhalten. Du liegst zwischen meinen Wurzeln und läßt es dir gut gehen." Es knarrte in der alten Eiche, als der Wind durch ihre Krone fuhr. "An mir zerrt das Gewicht, an mir, bei diesem Wetter könnte der Ast jeden Moment brechen."

"Und auf wen fällt er dann herab?", schrie der Stein. "Doch wohl auf mich."

"Niemand zwingt dich hier zu bleiben."

"Ich war zuerst da", beharrte der Stein. "Seit Äonen habe ich hier gelegen und hatte meinen Frieden. Bis du kamst."

"He, He, wir wollen doch bei der Wahrheit bleiben", unterbrach die Eiche. "Du warst doch froh, nicht mehr allein zu sein. Endlich jemand zum Reden, sagtest du, als ich mich neben dir niederließ."

"Anfangs warst du ja auch ein niedlicher Sprößling. Aber jetzt bist du ein solches Ungetüm, dass ich seit Jahren keine Sonne mehr abgekriegt habe. Im Herbst begräbst du mich unter deinem Laub. Und jetzt kommen auch noch alle paar Wochen die Leute aus der Stadt, um eine arme Seele über mir auf zu hängen."

"Du tust mir ja so leid. Als sie den Fettwanst vorhin auspeitschten und er hin und her baumelte, zog es dermaßen in meinem Stamm, dass ich mich fast nach einem Blitzschlag sehnte, der mich von meinen Qualen erlöst."

"Auf mich tropft jetzt sein Blut. In ein paar Tagen, wenn der Kerln anfängt zu verfaulen, wenn die Krähen an ihm nagen, dann fällt sein stinkendes Fleisch auf mich herab. Und ich kann mir noch nicht einmal die Nase zu halten."

"Warum streiten wir uns eigentlich jedes Mal wieder?", fragte die Eiche nachdenklich.

"Weil es widerlich ist Menschen auszupeitschen und in Bäumen aufzuhängen."

"Ja, du hast recht, widerlich und grausam", sinnierte der Baum. "Erinnerst du dich noch an Zeit, als sie Hexen auf Scheiternhaufen verbrannten?"

"Das waren noch Zeiten!", träumte der Stein. "Sie haben deine abgebrochenen Zweige von mir fortgeräumt und aufgeschichtet."

"Und wenn das Feuer so richtig loderter, dann wurde es im bittersten Winter warm auf unserem Hügel."

"Ja, Scheiterhaufen auf sind schön", bestätigte der Stein.

11
Sep
2006

5 Jahre

Wie vor fünf Jahren mein Tag begann, weiß ich nicht mehr, genauso wenig, an welchem Projekt ich damals arbeitete, was es in der Kantine zu essen gab, worüber ich und meine Kollegen beim Mittagskaffee sprachen oder welches Obst ich für den Nachtmittag mitgenommen hatte. Aber ich weiß noch genau, wie ich damals davon erfahren habe. Irgendwann zwischen 16 und 17 Uhr schaute Boris in mein Büro und fragte ich mich, ob ich es schon wüsste, ein Flugzeug wäre ins World Trade Center geflogen, Spiegel Online wäre total überlastet und der Server zusammengebrochen. Er war bleich, sprach leise, vielleicht sagte auch etwas anderes, vielleicht dass irgendeine Katastrophe in New York passiert sei. Ungefähr ab diesem Zeitpunkt wird meine Erinnerung klarer. Ich versuchte noch Spiegel Online anzusurfen, war aber vergeblich. Dann fuhr ich nach Hause. Im Auto hörte ich den Deutschlandfunk. Ruhige Musik, vielleicht auch Trauermusik, und Berichte, Berichte, Kommentare, Berichte, Berichte. Erst nach ein paar Minuten konnte ich mir zusammen reimen, was passiert war. Zuhause sass Gerd, mein damaliger Mitbewohner, vorm Fernseher, bis 20 Uhr schaute ich die Berichte im Fernsehen. Gerd hatte Besuch vom einem Freund bekommen, sie saßen in der Küche und überlegten, ob sie ins Kino gehen sollten, "Der Schuh des Manitu", platt genug um sich abzulenken.

Es war Dienstag, Go-Spieleabend im Meisenfrei, ich überlegte, ob ich hingehen oder zu Hause bleiben sollte. Aber ich hatte schon so viele Bilder gesehen, dass ich nicht mehr davon sehen wollte. Überhaupt hatte ich mich schon im Zynismus behaglich eingerichtet: Dass die nicht schon früher darauf oder auf etwas ähnliches gekommen waren, hatte ich damals tatsächlich gedacht, und dass das Leben weiter geht, dass mein Mitgefühl für die Amerikaner nicht so gross sei, dass ich in Deutschland weit weg von allem sei. Als ich das meisenfrei betrat, liefen im Fernsehen natürlich noch die Bilder aus New YorK. Ein paar Besucher hockten davor, tranken Bier, fassungslose Gesichter und Kommentare, aber eigentlich ein normaler Kneipenabend.

Ein paar Tage später berichtete Massud, der damals ein Kollege von mir war, dass Bekannte von ihm den Anschlag begrüsst hätten, dass es nach deren Meinung den Amerikanern recht geschehe und dass er sie deshalb am Telefon zusammen geschissen habe, wegen des Unsinns den sie reden würden.

Vieles ist seit dem geschehen. Damals war ich ein anderer. Ich habe meinen Namen geändert, mein Geschlecht. Heute bin ich eine andere. Heute habe ich ein dreistündiges Feature auf WDR 5 über den 11. September gehört. Dabei spülte ich das Geschirr der letzten Tage, bemühte mich möglichst leise zu sein, um nichts von dem Feature zu verpassen. Eigentlich hätte ich eine Freundin anrufen müssen, um ein Treffen zu verschieben, das wir am Nachmittag per SMS verabredet hatten. Ich konnte mich nicht von den Geschichten losreißen. Ich lauschte gebannt, fassungslos, wie vor fünf Jahren.

10
Sep
2006

Scherben

Durch die Milchglasscheiben des Cafes schleicht sich ein Lichtfleck herein, kriecht die Vorhänge herunter, baumelt in den Blätter der Pflanzen, stolpert vorbei an Marthas Michkaffee und fälll auf Steinfußboden, auf dem er zerschellt. Die Scherben flackern, tänzeln, als Martha ein Bein ausstreckt, um auszuprobieren, ob die glitzernden Flecken davon stieben, wenn sie in den Haufen hineintritt. Martha wartet, es passiert nichts, nur eine Kellnerin stößt mit einem Gast zusammen, der von seinem Platz aufspringt, als sie sich mit einem vollen Tablett hinter ihm zwischen den Stühlen durchschlängelt. Die Tasse und Gläser fallen herab, zerklirren auf dem Boden, Scherben flüchten unter die Tische. Währen Martha den Streit zwischen der Kellnerin und dem Mann beobachtet, rührt sie mit einem Löffel ihren Milchkaffee um. Noch eine Minute, dann darf sie ungeduldig werden; sie blickt zur Tür, aber er kommt nicht, sie vermeidet den Blick auf die Uhr, weil dann die Rechtfertigung für ihre langsam aufkeimende Wut zerbräche. Er könnte noch immer pünklich kommen. Die Zeit hat den Punkt, an dem Martha mit ihm verabredet ist, noch nicht erreicht; trotzdem knischern ihre Gedanken. Zu lang hat er sie immer wieder vertröstet, zu oft beteuert, wie wichtige ihm die Unterhaltungen mit ihr sind, zu oft ihr ihre Fehler vorgehalten, die es ihm schwer machten, die Freundschaft aufrechtzuhalten, und immer keine Konsequenzen gezogen. Die Unterhaltungen, wenn er sich mal wieder ausheulen will, ja dann ist sie gut genug. Als die Kellnerin plötzlich vor Martha steht und fragt, ob sie etwas wünsche, zuckt Martha ein wenig zusammen; sie rührt noch immer ihren Michkaffee um, obwohl der Mann längst bezahlt, die Scherben zusammen gefegt sind und ein anderes Grüppchen an dem Tisch des Mannes Platz genommen.

"Nein, nichts, danke", sagt Martha. "Oder halt, warten Sie! Einen Pflaumenkuchen mit Sahne, bitte."

Wenn er jetzt käme, wäre gerade fünft Minuten zu spät, da darf sie nicht auf ihn wütend sein. Erst wenn sie ihre Bestellung bekommen hat und die letzten Reste Sahne und Krümel zusammen gekratzt hat, darf sie wütend sein. Sie schaut zur Tür.

5
Sep
2006

Feuerwerk

Als ich die Tür zur Dachterrasse öffnete und hinaustrat, empfing mich eine laue Sommernacht. Die Stadt schlief schon. Vorsorglich hatte ich eine Taschenlampe eingesteckt, die brauchte ich aber nicht, weil die Stadt genug Licht spendete, dass ich zwischen den Gartenstühlen und Tischen ohne Probleme bewegen konnte. Zur meine linken strahlte der fast volle Mond über dem Rand einiger Wolken. Wie einsam es nachts auf dem Dach eines Hauses ist, und wie nahe man doch anderen Menschen kommen kann, wenn sie die Gardinen nicht vor die Fenster gezogen. Hinter einem Fenster, das zur Terass lag, sass einer der Bewohner vor seinem Rechner mit Kopfhörern auf dem Kopf, surfte im Internet. In einem Nachbarhaus konnte ich in ein erleuchtetes Wohnzimmer blicken. Wie konnten die alle nur so still sein, wussten sie nicht von dem Ereignis?

Ich spähte nach rechts über die Brüstung, wo sich die dunle Silhouette des Lousberges ab, ein bis zwei Kilometer entfernt. Ich stellte mich auf einen der Gartenstühle, um besser sehen zu können, was aber nicht nötig sein sollte. Kurz darauf öffnet sich zwei Dächer weiter eine Luke, aus der jemand seinen Kopf herausstrecke. Durch ein Fenster in der obersten Etage eines Hauses mit Flachdach, beobachtete ich, wie jemand einer Falltür zum Flachdach öffnet und eine Leiter herunterließ, über die einige Leute hoch kletterten. Ich hatte keine Uhr, bald musste es beginnen, vielleicht hörten die anderen Radio, WDR2 übertrag sollte es übertragen, mit Musikbegleitung.

Dann begann es, ohne Ankünding, leuchtete der Böller am Himmel auf, nach ein paar Sekunden der Explosionsknall, eine irritierende Wahrnehmung, erst sah ich die Wirkung, das Feuerwerk, dann hörte ich die Ursache, den Knall der Explosione. Rote, goldene Sterne schwärmten empor, sprühten Kaskaden funkelnder Blitze. Lichkugeln blähten sich auf, Fontänen in gelb und orange ergossen sich. Bald hing eine riesige Rauchwolke über dem Berg, als dunste eine Feuer speiender Drache aus Bäumen aus, glühte blassrot, der Qualm erinnerte die Spur der Sterne. glühende Libellen schwirrten durch die Luf, jackten flackernde Schmetterlinge.

"Das ist doch nicht von dem Reitturnier!"

Der Internetsurfer war aus seiner Wohnung gekommen und stand hinter mir.

"Doch", antwortete ich. "Eigentlich sollte das gestern schon stattfinden, aber da haben sie's abgesagt, wegen Wind."

So wie es begonnen hatte, endete es, ohne Ankündigung, ohne Kommentar. Nach der letzten Rakete blicke noch einen Moment zum Lousberg, vielleicht kam ja noch eine. Dann stieg hinunter in meine Wohnung.

1
Sep
2006

Können Fische telefonieren?

"Was meinst du, Ala", Joachim zeigte auf die Telefonzelle, an der sie vorürbergingen, "können Fische telefonieren?"

Die Telefonzelle war zu einem Aquarium umgebaut. Der Hörer hing in dem trüben Wasser herab, Luftblasen sprudelten aus ihm empor. An den Scheiben wucherte ein grünlicher Algenfilm. Goldfische schwammen träge umher. Ein kalter Wind, der an diesem Morgen über das Gelände der Expo2000 fegte, blies den Nieselregen in Alanas Gesicht. Mit einer Hand wischte sie sich Tropfen von der Stirn.

"Hey, die machen hier tatsächlichen einen Test" Joachim beugte sich zu einem Schild, das an den Scheiben befestigt war. "ob Fische telefonieren können. Über den Tasten hängt ein Zettel mit Telefonnummern."

"Deine Fische kotzen mich an", Alana zog den Reisverschluss ihrer Jacke zu und verschrängte die Arme vor der Brust.

"Was ist heute eigentlich mit dir los?" Joachim drehte sich zu ihr um. "Du wolltest auf die Expo, bitte schön, wir sind auf der Expo."

"Und welche Lüge hast du deiner Frau diesmal aufgetischt?"

"Dass ich einen dringenden geschäftlichen Termin bei einem Kunden in Las Vegas habe."

"Auf so eine dumme Ausrede kannst auch nur du kommen."

Der Regen wurde stärker und drang langsam durch ihren Schal.

"Was hätte ich denn sonst sagen sollen?"

"Vielleicht etwas naheliegenderes." Alana deutete mit der Hand auf einen Punkt zwischen ihr und Joachim. "Oder vielleicht die Wahrheit."

"Die Wahrheit. Was soll das denn heißen"

Ein Handy klingelte. Joachim legte die Stirn in Falten und griff eine Hosentasche.

"Hallo?", Joachim hielt den Kopf schräg gegen den Apparat. "Schat, ich habe die schon tausend Mal gesagt, du sollst mich nicht auf meinem Handy anrufen, wenn ich geschäftlich unterwegs bin."

"Du bist unmöglich", schrie Alana, entriss Joe das Handy und rannte davon. "Hier ist Alana. Interessiert dich, wo sich dein Mann gerade rumtreibt?"

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