Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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Das Streben nach Angst
Seit Jahren gibt es eine Weisheit unter Werbestrategen:...
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HARFIM - 2. Mär, 00:10
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Gestern kam die neue Ausgabe der TextArt. Auch wenn...
sarah.tegtmeier - 1. Mär, 22:25

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29
Aug
2006

Schrei!

Norbert fuhr in seinem Bett auf. In seinem Zimmer war es dunkel, durch das geöffnete Fenster blies die Nacht herein. Obwohl er nackt auf dem Bett lag, lief ihm Schweiß die Stirn herunter. Er hatte einen Schrei gehört, einen langsam anschwellenden Ton. Aber jetzt, da bis auf Grillen, die im Garten zirpten, Stille um ihn herschte, war er nicht sicher, ob er den Schrei wirklich gehört oder nur geträumte hatte. Konnte man von einem geträumten Schrei aufwachen? Der Radiowecker auf seinem Nachtschrank zeigte 23:45 Uhr an. Er hatte höchstens eine Stunde geschlafen. Er wischte sich Schweiß von der Stirn.
"Uuuuaah!"
Der Schrei klang zuerst wie eine leise muhende Kuh, wurde lauter, dehnte sich wie Luft, die aus einem Ballon entwich, er kam aus der Nachbarwohnung. Norbert sprang aus dem Bett, zog den Bademantel über und lauschte an der Wohnungstür. Als er durch den Türspion spähte, brannte ihm Treppenhaus kein Licht. Erst vor einer Woche war eine junge Frau nebenan eingezogen, der er seitdem nur einmal vor der Haustür kurz begegnet war, er konnte sich kaum an ihr Aussehen erinnern. Sie schien aber jünger als er zu sein.
"Ooooooeeeeeeh!"
Diesmal rumorte die Stimme erst wie eine Oboe und wechselte in einen langgezogenen Geigenton, trotzdem war es ohne Zweifel eine Frauenstimme, die von der gegenüberliegenden Wohnung scholl. Norbert öffnete die Wohnungstür und trat hinaus. Seltsam, dass keiner der anderen Mieter irritiert war.
"Aaaah! Aaaah! Aaaah!"
Kurze Schreie, unmittelbar hintereinander, eher brüllendes Stöhnen. Waren das Schmerzensschrei? Hatte die Frau einen Unfall gehabt? War sie krank?
"Jiiiiiiiiiiiiii ..."
"Hallo!" Norbert polterte mir den Fäusten gegen die Tür, der Schrei brach ab.
"Ist ihnen was passiert? Brauchen sie Hilfe?", schrie er.
Die Wohnungstür öffnet sich. Eine zierliche Frau, nur bekleidet mit meinem dünnen Nachthemd, fiel ihm um den Hals und küsste in auf den Mund.
"Was tun sie? Was soll das?", er stieß die Frau von sich fort. "Erst schreien sie, dass man sonstwas denkt, jetzt knutschen sie mich ab."
"Entschuldigen sie, ich hab total vergessen, dass noch andere im Haus wohnen" Die Augen, das Gesicht, der Körper der Frau strahlten wie ein riesiges Feld blühender Sonnenblumen. "Ich musste es einfach hinaus schreien"
"Was?", stammelte Norbert.
"Ich bin so glücklich!", rief sie atemlos. "Ich bin fertig! Verstehen sie? Fertig! Fertig! Fertig!"
"Fertig? Womit?"
"Kommen sie!", die Frau nahm seine Hände. "Schreien sie mit mir! Ich lad sie ein! Lassen sie es raus!"
"Ich?" Er riss sich von ihr los und ging ein paar Schritte zurück. "Was soll ich raus lassen?"
"Was weiß ich?" Sie packte ihn an den Schultern. "Es halt! Ihre Angst, ihr Glück, ihre Zweifel, ihre Träume!"
Sie stellte sich mitten ins Treppenhaus.
"Kommen sie, wir schreien zusammen!"
Sie beugte sich nach vorn, presste die Hände gegen Stirn und begann: "Jiiiiiiiiiipppppppiiiiiiiii!"

24
Aug
2006

Der Termin

Bevor Susanne aus dem Wagen stieg, blieb sie noch ein paar sitzen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, den ganzen Tag schon hatte er rumort, aber sie hatte keine Zeit gefunden sich zu erleichtern. Auch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Sie drückte sich in den Sitz und presste den gegen ihren Enddarm. Sie wusste, dass man das nicht tun, dass man auf Toilette gehen sollte, wenn der Körper einem die entsprechenden Signale gab, aber so kurz vorm Ziel, konnte sie nicht von ihrem Zeitplan abweichen. Sie klappte den Schminkspiegel herunter, um ihr Gesichcht zu kontrollieren. Auf der Stirn sammelten sich Schweißperlen, die sie mit einem Taschentuch wegwischte. Sie schaute in ihre Augen. Jemand der sie nicht kannte oder wie Dr. Nobis nur ein paar Mal gesehen hatte, würde in diesen Augen nichts weiter sehen als die leeren Augen einer Mittdreißigerin, arbeitslos, etwas verzweifelt; Susanne hatte lange geübt, bis sie diesen Blick beherrschte, diesen Blick, der ihre Absicht und Entschlossenheit verschleierte. Sie nahm ihre Haare zusammen und band sie mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen, wass ihr eine noch harmloseres Aussehen gab. Für einen Moment ließ sie die Maske fallen, sie streckte die Zunge heraus, wollte sich selbst sehen, ob sie die Kraft für die Tat noch dar war oder ob der Magenkrampf ein Wink aus ihrem Unterbewusstsein, den Plan besser aufzugeben. Nein, kein Zweifel, sie wollte es, sie steckte eine Hand in die Handtasche, taste nach dem Revolver, fühlte den Lauf, den Abzug, die Trommel; während sie Waffe befühlte, ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden, wusste sie: Niemand könnte sie aufhalten, sie war entschlossen. Sie griff nach ihrer Handtasch stieg aus dem Wagen aus und gerade, als sie die Tür zu schlagen wollte, bemerkte sie, wie der Wagen langsam rückwärts aus der Parklücke heraus auf die Straße rollte. Der Schalthebel des Automatikgetriebes stand auf "R" und die Handbremse war nicht angezogen. Susanne risse die Handbremse bis zum Anschlag zurück, abrupt blieb der Wagen stehen. Ihr Herz schlug schneller. Beinahe, das war knapp. Eine kleine Unachtsamkeit und ihr Vorhaben wäre gescheitert. Warum hatte sie auch einen Wagen mit Automatikgetriebe geliehen, sie würde sich nie daran gewöhnen. Sie schob den Schalthebel auf "P" und schlug die Tür zu. Sie atmete erleichtert auf, noch mal gut gegangen; nur nicht dran denken, was passiert wäre, wenn der Wagen während sie die Tat ausführte in den Verkehr gerollt wäre.

30
Jul
2006

Zwischen den Beinen

Sie kamen die Heinzenstraße herunter, als ich gerade mein Liegedreirad durch die Haustür schob. Drei coole Jungs im Alter von 16 bis 18 Jahren, so Hipp-Hopper Typen mit viel zu weiten Hosen und Goldkettchen um den Hals, obwohl ich das gar nicht so genau weiß. Ich schaute sie nicht an, um eine Unterhaltung mit ihnen zu vermeiden.

"Cooles Rad!"

"Guck dir das an!"

Ich ahnte schon die nächste Frage.

"Was kostet denn so'n Rad?"

Das wollen die meisten zuerst wissen, wenn sie mein Rad bestaunen.

"Ein kleines Auto", antwortete ich.

Während ich mich setzte und damit beschäftigt war, meine Füße an den Pedalen fest zu schnallen, stand einer neben mir.

"Kann ich helfen?", fragte er.

"Nein, danke!"

Wenn er ungefähr zwanzig Jahre älter und attraktiver gewesen wäre, hätte ich seine Hilfe angenommen, nicht weil ich sie brauchte sondern, um mit ihm zu flirten.

"Hey, Sie sind ja gar keine Frau!", rief er, als ich fast Abfahr bereit war.

"Natürlich bin ich eine Frau!"

"Ich seh' doch Ihren Bart!"

Nun gut, zu gegeben, obwohl ich mich rasiert hatte, sah man noch einen leichten Bartschatten. Ich habe ein Hormonproblem, schoss es mir als Antwort durch den Kopf - was der Wahrheit nahe kommt - verkniff aber den Kommentar.

"Was haben Sie denn zwischen den Beinen?"

"Nichts!"

Was sonst als die Wahrheit hätte ich antworten sollen? Das ist einer der Vorteile, wenn man Post-OP ist: Man kann die Wahrheit sagen. Oder muss ich erst das Höschen runter lassen, damit du mir glaubst? Aber auch diese Bemerkung behielt ich für mich.

"Nichts hat er zwischen den Beinen!", rief er hinter mir, als ich in die Alexanderstraße bog. Sie! Du, Depp! Sie hat nichts zwischen den Beinen!

24
Jul
2006

sonderbar

Nein, ich verrate nicht, über wen ich heute schreibe; ich bin diskret.

Er arbeitet in derselben Firma wie ich. Wie alt er ist, weiß ich nicht; bestimmt 10 bis 15 Jahre älter als ich. Er arbeitet noch immer in der Abteilung, in der ich damals in der Firma anfing. Er war einer der ersten Projektleiter, für den ich programmierte. Schon damals wunderte ich mich über ihn. Wenn man sich mit ihm unterhält, schaut er einen nicht an, sein Kopf steht nicht still, kippt zur Seite, nach hinten, nach vorn, seine Augen blinzeln, die Stimme klingt immer hektisch. Er trägt eine schmale Brille, die Haare sind kurz geschnitten: Topfdeckelschnitt. Um die Taille wölbt sich der Bauch wie ein schlaffer Rettungsring. Die Grundfarben seiner Kleidung sind grau und braun, Flanell- oder Baumwollhosen, gestreifte Poloshirts; bunte Farben habe ich nie an ihm gesehen. Eine Freundin, die als Hiwi für ihn arbeite, meinte, dass sie manchmal an seinen Schläfen und in seinen Haaren Dreckkrusten sah. Mir ist das nie aufgefallen, ich kann mich auch nicht erinnern, dass er irgendeinen Geruch verströmte, das passte auch nicht zu meinen Bild von ihm.

Er fährt jeden Morgen, mit dem Bus zur Firma; mit derselben Linie mit der auch ich zur Arbeit fuhr, als ich noch kein Auto hatte. An der Haltestelle und im Bus liest er eine Tageszeitung, versteckt sich fast dahinter, sieht sich nicht um. Abends fuhr er mit derselben Linie zurück wie auch ich. Morgends steigt er an der Haltestelle "Kaiserplatz" ein, fährt abends aber nur bis zur "Augustastr.". Als ich noch den Bus benutzte, beobachtete ich ihn jeden Abend, wie er die Wilhelmstraße hinunter Richtung Aldalbertsteinweg ging. In der rechten Hand hielt er ein braune Aktentasche. Die Arme schwangen vor zurück wie Flossen. Wie beim Sprechen ruhte sein Kopf beim Gehen nicht, er presste das Kinn auf die Brust, schaute nach links auf die Straße, nach rechts auf die Häuser, schräg voraus nach oben. Monatelang versuchte ich ihn vom Bus aus zu observieren, während dieser sich durch den abendlichen Berufsverkehr kämpfte und er nach Hause ging; ich wollte herausfinden, wo er wohnte. Meistens war der Bus schneller als er, so dass ich ihn noch auf der Wilhelmstraße aus den Augen verloren. Nur ein paar Mal staute sich der Verkehr vorm Kaiserplatz derart, dass er vor mir, d.h. vor dem Bus, in dem ich sass, den Kaiserplatz erreichte, dann verlor ich ihn aber stets unter den anderen Passanten aus den Augen.

Seit ungefähr einem halben Jahr fahre ich nicht mehr mit dem Bus sondern mit dem eigenen Wagen zur Arbeit; seitdem sah ich ihn nur manchmal in der Kantine. Als ich gestern Abend von der Arbeit nach Hause fuhr und am Kaiserplatz an der Ampel stand, überquerte er vor mir die Kreuzung in Richtung Innenstadt. Er trug keine Aktentasche, ansonsten bewegte er sich wie immer: die Arme schwangen wie flossen, der Kopf kippte nach vorn, nach hinten, zu den Seiten. Ich beobachtete ihn, während am Kaiserplatz in der Menge verschwand.

Er ist einer dieser sonderbaren Menschen, bei denen ich mich frage, wie sie so sonderbar geworden sind und ob sie sich ihrer Sonderbarkeit bewusst sind und sich ihrer vielleicht am liebsten entledigen würden. Ist das eine überhebliche, eine arrogante Einstellung? Bin ich selbst nicht auch sonderbar, nicht sogar viel sonderbarer und auffälliger als er? Und doch nehme ich mich als normal war. Normaler als eher?

Manchmal versuche ich mir seine Wohnung vorzustellen. Ob die auch so grau eingerichtet ist, wie er sich kleidet? In meinen Augen ist er ein unattraktiver Mann. Obwohl ich es mir kaum vorstellen kann, weiß ich: Auch er hat irgendeinen Traum, eine Leidenschaft von der er mit leuchtenden Augen erzählen kann. Ich müsste ihn nur kennenlernen; aber das will ich natürlich nicht, sondern will ihn weiter als das sehen, als was er mir erscheint: sonderbar.

3
Jul
2006

Genug Zeit

Der Knauf des Kleiderschrankes seiner Mutter fühlt sich kalt an, Heiko dreht ihn herum und öffnet die Tür einen Spalt weit; hineinschauen kann er nicht, ein flüchtiger Hauch vom Parfum seiner Mutter, das die Kleidungsstücke ausdünsten, umfächelt ihn. Irgendwo in der leeren Wohnung knarrt eine Diele. Er zuckt zusammen, stößt die Tür zu, hastet aus dem Schlafzimmer seiner Eltern zurück in sein Kinderzimmer. Verwundert blickt er sich um, als er bemerkt wo er sich befindet, denn in Gedanken steht er noch immer vor der verschlossen Tür. Er setzt sich auf das Bett, schlägt den "Herrn der Ringe" auf, kann sich aber nicht konzentrieren und so legt er das Buch zurück auf den Nachtschrank.

Wie lange ist seine Mutter fort? Vielleicht eine viertel Stunde, höchstens zwanzig Minuten. Genug Zeit also, denkt er. Wenn die Mutter zum Einkaufen in die Stadt fährt, braucht sie immer mindestens zwei Stunden. Genug Zeit also. Der Vater kommt frühestens in vier Stunden von der Arbeit. Die Schwester besucht eine Freundin. Genug Zeit, du kannst wagen sagt er sich.

Er geht auf den Korridor, lehnt sein Ohr gegen die Wohnungstür, horcht in das Treppenhaus. Ein Nachbar könnte klingeln, um nach irgendetwas zu bitten, aber wonach fällt Heiko nicht ein, überhaupt klingeln die Nachbar nur selten. Genug Zeit, du kannst es wagen, nur eine halbe Stunde, du hättest genug Zeit die Sachen zusammen zu legen und in den Schrank zu hängen, sagt eine Stimme in ihm.

Wieder schleicht er in das Schlafzimmer seiner Eltern, vorsichtig, als könnte die Mutter jeden Moment nach Hause kommen. Er geht am Kleiderschrank vorbei, versteckt sich hinter den Vorhängen und späht hinunter auf die Straße vorm Haus: Der Nachbar von gegenüber mäht Rasen. Könnte der ihn von dort beobachten, wenn er die Tüf öffnet? Kein Verkehr auf der Straße. Heiko blickt wieder auf den Knauf. Was mache hier ich? Warum will ich das? Warum ausgerechnet ich? Was stimmt mit mir nicht? Er lehnt den Kopf gegen die Schranktür, eine Hand umkreist den Knauf, streichelt ihn fast, dann packt er zu und reißt die Tür auf. Der Geruch seiner Mutter schlägt ihm entgegen, dass er für einen Momet glaubt, sie stünde neben ihm. Da hängen sie: die Blusen, Kleider, Röcke seiner Mutter.

2
Jul
2006

Das Leben der Anderen

Heute Morgen beim Frühstück las ich im Feuilleton der ZEIT einen Artikel über die Art, wie in Deutschland der DDR gedacht. Mir wurde dabei auf einmal klar, dass ich die Vergangenheit der DDR niemals als Teil meiner eigenen Vergangenheit angesehen habe; ganz im Gegensatz zum Nationalsozialismus und zum Holocaust, die in meinem Bewusstsein immer wieder aufflackern, die ich als Teil meines Deutsch-Seins angenommen habe. Aber was geht mich die DDR an? Als mit Beginn der Fussball-WM die Deutschlandfahnen auf Autodächern flatterten, fragte ich mich, ob die Besitzer der Autos sich der Tragweite ihres Bekenntnisses zu Deutschland bewusst waren: Ob sie sich auch zu den Gasschwaden, Rauchwolken und Leichenbergen bekennen, die meinen Blick zurück in die deutsche Vergangenheit verstellen? Ich fragte mich aber nicht, ob die Fahnenspazierfahrer sich zu den Opfern des DDR-Regimes bekennen.

Ich bin ein Wessi, und wie es sich für so ein Individuum gehört, haben mir während meiner Schulzeit wohlmeinde (wahrscheinlich linkslieberale 68er) Lehrer das schlechte Gewissen wegen der deutschen Geschichte eingeimpft. Als ich in der neunten oder zehnten Klasse war, lief in mein Heimatstadt der Film "Shoa", eine über sechstündige Dokumentation über den Holocaust, bestehend aus Interviews mit Zeitzeugen. Ich glaube alle Jahrgänge ab der neunten Klasse wurden damals von der Schule dazu abkommendiert, den Film zusammen mit Lehrern zu sehen, viele meiner Mitschüler empfanden das so, und zeigten es, indem sie während der Vorstellungen Desinteresse und Gleichgültigkeit demonstrierten. Einige Jahre lief "Shoa" im WDR, ich habe jede Folge gesehen und würde es heute wieder tun.

Vor einigen Wochen habe ich "Das Leben der Anderen" gesehen. Als der Abspann lief, zitterte ich fast am ganzen Körper, so intensiv empfand ich den Film

15
Jun
2006

Gesund

Sie war krank gewesen, tiefer und erschütternder als ihr bisher bewusst gewesen war, das lernte Maria mit jedem neuem Tag, den es ihr besser ging. Seit sie sich von ihrem Bett erhoben hatte, begann sie zu verstehen, dass es Abstufungen unter den Krankheiten gab. Immer hatte sie gedacht zu wissen, was es bedeutete krank zu sein, und hatte dabei nur an körperliche Heimsuchungen gedacht. Wenn sie früher mit schwerem Fieber im Bett fantasiert hatte, wenn eine Blasenenzündung ihren Unterleib zusammen geschraubt hatte, dass sie wimmernd auf der Toilette hockte, hatte sie das immer für die schlimmste aller Krankheiten gehalten. Von jeder dieser Krankheit glaubte sie sich erholt zu haben, aber erst jetzt seit sie verstand, wie krank im Geist sie gewesen war, wie durcheinander ihre Gedanken gewesen war, begriff sie was es hieß, gesund zu sein. Morgends tanzte sie durch ihre Wohnung und dabei sang zu den Melodien alter Schlager sinnlose Silben.

13
Jun
2006

Brasilien - Kroatien

Die erste Halbzeit läuft noch, keine Ahnung wie es steht. Den Ton meines Fernsehers habe ich leise gestellt, so dass ich den Kommentar der ARD hier an meinem Schreibtisch nicht verstehen kann. Was mache ich jetzt? Ich schreibe mal wieder, seit einer unendlich langen Zeit. Man soll diesen Begriff "unendlich" nicht benutzen, wenn man ihn nicht versteht, aber ich weiß, was er bedeutet: Ich habe ein Diplom in Mathematik, sogar ein einigermaßen gutes. Unendlich das heißt länger als jede endliche Zeitspanne, das entspricht ziemlich genau der gefühlten Zeitspanne, wie lange es her, dass ich was Vernünftiges zu Papier gebracht oder in den Rechner getippt habe. Wogegen schreibe ich? Gegen die Agonie des Nicht-Schreibens, dass ich mich kaum motivieren kann, mich hier hinzusetzten, um zu schreiben, und in erster Linie gegen die Angst, dass mir nichts einfällt.

Ein kurzer Blick auf die Uhr, rechts unten im Systray (oder wie auch immer dieser Bereich des Windows-Bildschirm heißt) sagt mit, dass jetzt die erste Halbzeit zu Ende sein müsste. Ob sich die Brasilianer blamiert haben, ob sie ihrer Favouritenrolle gerecht werden. Ich könnte jetzt eine kleine Internet-Recherche nach dem Spielstand starten, ich verkneif's mir. Wieviel Minuten bleiben mir noch bis ich die täglichen 15 Schreibminuten voll hab, die ich mir vor noch viel längerer Zeit irgendwann vorgenommen hatte.

Nun ist also Fussball WM, kein Weg führt dran vorbei, selbst in der Firmenkantine werde ich täglich daran erinnert: Statt der üblichen Blumendekoration stehen auf den Tischen kleine Fussballfelder mit Plastiktoren drauf, die kaum Platz für die Tablets lassen. Ich bin kein Fussballfan, früher war ich das einmal, auch das ist unendlich lange her, war Teil eines anderen Lebens, den ich mir im Universitätskrankenhaus Essen habe wegschneiden lassen. Ich kann mich erinnern: Als Junge stürmte ich mit Schwarzenbeck über den Rasen hinter dem Hotel meiner Großeltern...

Und was bedeutet die WM heute für mich? Sie liefert mir billige Ausreden, um mich vorm Schreiben zu drücken: Ich wollte das Spiel gucken, Brasilien sehen, Fussballzauber, stattdessen sitze ich hier und schreibe sinnloses Zeug. Ich glaube die zweite Halbzeit hat gerade begonnen, immer noch keine Ahnung, wie es steht, um Brasilien oder Kroatien oder um mein Schreiben.

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