Warum die Mammuts ausstarben
Zu Beginn des neuen Jahres haben sich einige von Euch sicher ein paar gute Vorsätze genommen. Der eine will vielleicht weniger in virtuellen Welten umherirren und stattdessen öfter ein gutes Buch lesen. Eine andere möchte das Rauchen aufgeben, mehr Sport treiben oder sich gesünder ernähren. Warum die meisten Menschen ihr Verhalten ausgerechnet ab dem ersten Januar ändern wollen, mit den dafür nötigen Schritten also warten, bis die Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne einen willkürlich gewählten Punkt erreicht hat, ist so als stellte jemand am 1. April einen Wasserrohrbruch in seiner Wohnung fest, telefonierte am 1. August mit dem Klempner und beschlösse gemeinsam mit ihm, dass der beste Zeitpunkt für eine Reparatur der 2. Januar des kommenden Jahr sei. Der 1. Januar scheidet natürlich aus. Welcher Handwerker arbeitet schon an meinem Feiertag?
Die intelligenteren Menschen unter uns nutzen die Zeit bis zum neuen Jahr, um sich auf die Änderungen vorzubereiten. Wir rollen den feuchten Teppich zusammen, hängen ihn zum Trocknen auf die Wäscheleine und lassen das weiterhin sprudelnde Wasser über einen Durchbruch in der Wohnungstür abfließen. Einmal pro Woche wischen wir das gesamte Treppenhaus, um die Wartezeit auf den Klempner einigermaßen erträglich zu halten. Die Nachbarn beklagen sich nur selten über den Schimmel, der langsam an Wänden empor klettert - schließlich müssen sie für den Rest des Jahres keinen Beitrag zur Treppenhausreinigung leisten, was einige Unannehmlichkeiten entschuldigt. Mit dem neuen Jahr wird alles besser.
Am 2. Januar klingelt uns der Klempner um 7 Uhr aus dem Bett. Wir verstecken uns unter dem Laken, weil der Kopf noch immer von der Silvesterparty dröhnt. Wir nehmen uns fest vor, den nächsten Jahreswechsel auf jeden Fall mit weniger Alkohol zu begießen. Während unter dem Bett das Wasser plätschert, sagen wir uns, dass das ja alles halb so schlimm sei. Seitdem letzten Frühjahr lief es doch ganz gut, da kommt es sicher auf ein paar Tage mehr nicht an. Dabei müssen wir noch Glück (vielleicht wäre Pech hier der bessere Ausdruck) haben, wenn der Klempner überhaupt am 2. Januar erscheint. Handwerker sind im allgemeinen nicht für ihren mäßigen Alkoholgenuss bekannt.
Es sollte uns also nicht wundern, wenn die meisten Menschen auch diejenigen, die sich vorbereitet wähnen, an ihren guten Vorsätzen straucheln. Wenn wir dieses Jahr unsere guten Vorsätze erfolgreich umsetzen wollen, müssen wir den Grund für das langjähriges Scheitern erkennen: Der fatale Hang des Menschen zu Ausreden. Dabei kann es sich nur um eine relativ junge Entwicklung in unserem Verhaltensrepertoire handeln und zwar um eine Degeneration des Menschen als Folge seiner Gewöhnung an zivilisatorische Errungenschaften. Im urzeitlichen Überlebenskampf können uns Ausreden keinen evolutionären Vorteil verschafft haben.
Ich stelle mir meinen Ur-Ur-Ur...-Urahn während der letzen Eiszeit vor. Er rennt gerade vor einer wild gewordenen Mammutkuh davon. Während er sie jagt, reflektiert die Kuh ihr bisheriges Verhalten - niedere Instinkte sind immer Ausreden. Ihr dämmert, dass dieser halb verhungerte Homo Sapiens sie mit seinem mickrigen Holzspeer nicht ernsthaft verwunden kann. Sie muss ihn nur mit ihrer Kraft und Größe nieder trampeln, also macht sie kehrt und greift an. Mein Urahn weiß aus Erfahrung, dass er über die größere Ausdauer verfügt. Stundenlang kann er vor einem Mammut davon laufen, bis es erschöpft zusammenbricht. Darin besteht gerade seine Jagdtaktik. Allerdings hat er von der Feier der Wintersonnenwende noch immer einen entsetzlichen Kater und jetzt auch noch Wadenkrämpfe. Am liebsten hockte er sich ein Augenblick hin, um zu verschnaufen. Was wäre passiert, wenn mein Urahn diesen Ausreden nachgegeben hätte? Denn seien wir ehrlich, um nichts anderes handelt es sich: In der Jungstein gelten körperliche Unzulänglichkeiten nicht als Grund, nicht den Abwasch zu machen oder nicht auf die Jagd zu gehen. Wie also sähe die Welt heute aus, wenn der Homo Sapiens damals einen Hang zu Ausreden gehabt hätte?
Ich sinnierte nicht über die Gründe für das Scheitern guter Vorsätze. Das Mammut hätte meinen Urahn niedergetrampelt. Der Homo Sapiens wäre ausgestorben. Die Mammuts hätten ihn ausgerottet,
sich statt seiner auf der Erde ausgebreitet und zu zivilisatorischen Höchstleistungen aufgeschwungen, die sich der begrenzte menschliche Intellekt nicht vorstellen kann. Mammutarchäologen grüben in der sibirischen Tundra die versteinerten Knochen einer primitiven Affenart aus und wunderten sich über verblichene Malereien an den Wänden unzugänglicher Höhlen. Welche Wesen auch immer beschließen, sich den eigenen Instinkten zu widersetzen und ihren Hang zu Ausreden zu überwinden, erklimmen die erste Stufe der Leiter zur Spitze der Nahrungskette.
Wenn ihr also in den nächsten Wochen an Euren guten Vorsätzen verzweifelt, wenn ihr mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zur Arbeit fahrt, wenn ihr bei McDonald's einen labbrigen Hamburger bestellt statt euch einen vitaminreichen Salat zu bereiten, wenn ihr im Supermarkt wieder eine Plastiktüte nehmt, weil ihr zu bequem wart eine Tasche mitzunehmen, und die paar Cent für eine Papiertüte sparen wollt, wenn ihr innerhalb Deutschlands mit dem Flugzeug anstatt mit dem Zug reist und die Verspätungen der Bahn als Gründe anführt, wenn ihr dem fortschreitenden Klimawandel misstraut und die anderen erst ihr Konsumverhalten ändern müssen, bevor ihr euren Ressourcenverbrauch einschränkt, dann denkt immer daran: Die Mammuts sind ausgestorben.