Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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20
Mrz
2010

Meine neue Droge

Bisher habe ich nur wenig Erfahrungen mit Drogen. Mein einziger Versuch Haschisch zu konsumieren liegt fast zehn Jahre zurück. Es war während des Geburtstages eines Freundes. Er hatte eine weitere Pizza in den Ofen geschoben und erklärt sie mit “Kräutern” bestreut zu haben. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich begriff, welche Kräuter er meinte. Ich war neugierig auf ihre Wirkung, hatte nicht die geringste Vorstellung, auf was ich mich einließ. Ich rechnete mit wilden Sexorgien, Allmachtsfantasien, Flugversuchen aus der fünften Etage und weinerlichen Depressionsattacken. So richtig verstanden, warum Leute Drogen nehmen, habe ich eigentlich nie. Erst als ich mit Ende 20 meine erste Zigarette rauchte und dabei ein bis dahin unbekanntes Gefühl der Leichtigkeit in meinen Armen spürte, ahnte ich es.

Nachdem wir die Pizza endlich aus dem Ofen geholt hatten, schlangen wir die Stücke gierig herunter und warteten. Mir wurde erklärte, die Wirkung würde schnell und abrupt einsetzen. Ich schaute in die Runde der Anfang Dreißigjährigen. Einige hatten schon Kinder, arbeiten nach Abschluss des Studiums seit ein paar Jahren oder standen mitten in ihrer Promotion. Wer würde zuerst einen glasigen Blick bekommen, aus unerklärlichen Gründen kichern oder schwermütig werden, sich aus dem Fenster stürzen wollen, weil er überzeugt war, fliegen zu können? Was würde ich spüren?

Wir warteten eine Stunde, wir warteten zwei Stunden. Wir hatten längst die nächste Pizza ohne Kräuter verzehrt, wir tranken Bier und Wein, aber die Kräuter wollten nicht wirken. Es herrschte allgemeine Ratlosigkeit, was wir falsch gemacht hatten. Die anwesenden Experten vermuteten, dass das Backen der Kräuter auf der Pizza die Stoffe, auf deren Wirkung wir gehofft hatten, geschädigt hatte. Aber eine genaue Erklärung wurde nie gefunden.

Meine neue Droge heißt Tolperisonhydrochlorid, das ist der Wirkstoff von Viveo, ein relativ neues Antispastikum, das im Gegensatz zu älteren Medikamenten dieser Art einen nicht müde macht. Als meine Neurologin es mir vor zwei Wochen verschrieb, fragte ich sie, wann ich mit der Wirkung rechnen könne, und war ziemlich erstaunt, als sie mir erklärte, dass es sofort wirke. Ich hatte erwartet, dass sich die Wirkung frühestens nach einigen Tagen einstellen würde. Sie riet mir die erste Dosis am Wochenende zu nehmen, um mich an die Wirkung zu gewöhnen. Ich sollte mich auf Muskelschwächung und Unsicherheit beim Gehen einstellen. Am besten wäre es, wenn jemand in der Nähe wäre, um mich notfalls zu stützen. Mit Antispastik-Medikamenten habe ich bisher keine Erfahrungen, weiß von meiner Neurologin nur, dass sie für gewöhnlich müde machen, so als hätte man die Nacht zuvor nicht geschlafen. Ich hatte also keine Ahnung, wie meine neue Droge wirken wird. Ich nahm die erste Tablette am Freitagabend nach dem Termin bei der Neurologin und wartete.

Ein Freud fragte mich einmal, dass er sich nicht vorstellen könne, wie sich eine Spastik anfühlt. Obwohl ich seit fast 40 Jahren mit einer Spastik in den Beinen lebe, viel es mir schwer, es ihm zu erklären, weil ich den Unterschied nicht kenne. Wenn ich im Fitness-Studio trainiere, bin ich immer wieder erstaunt, was manche mit ihren Beinen anstellen. Sie sitzen aufrecht im Langsitz und spreizen die Beine locker 90 Grad und mehr auseinander, manche schaffen sogar den Spagat und berühren dabei ihre Fußspitzen mit den Fingern. Ich bin froh, wenn ich mein rechtes Bein 10 Grad zur Seite spreizen kann. Um in den Langsitz zu kommen und meine Beine zu strecken, brauche ich fünf Minuten und eine Wand, gegen die ich mich lehnen kann. Im Fitness-Studio stehen Leute auf dem linken Bein, stützen sich locker mit einer Hand an der Wand und ziehen mit der anderen das rechte Bein fast bis zur Stirn. Für ich ist das Magie.

Man nimmt Drogen, weil man fliegen möchte, obwohl die Flügel am Boden kleben, weil man rennen möchte, obwohl man keine Ahnung hat, welches Ziel man erreichen will, weil man gehen möchte, obwohl die Füße schmerzen. Seit zwei Wochen nehme ich meine Droge und warte auf meinen Rausch.

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