sonderbar
Nein, ich verrate nicht, über wen ich heute schreibe; ich bin diskret.
Er arbeitet in derselben Firma wie ich. Wie alt er ist, weiß ich nicht; bestimmt 10 bis 15 Jahre älter als ich. Er arbeitet noch immer in der Abteilung, in der ich damals in der Firma anfing. Er war einer der ersten Projektleiter, für den ich programmierte. Schon damals wunderte ich mich über ihn. Wenn man sich mit ihm unterhält, schaut er einen nicht an, sein Kopf steht nicht still, kippt zur Seite, nach hinten, nach vorn, seine Augen blinzeln, die Stimme klingt immer hektisch. Er trägt eine schmale Brille, die Haare sind kurz geschnitten: Topfdeckelschnitt. Um die Taille wölbt sich der Bauch wie ein schlaffer Rettungsring. Die Grundfarben seiner Kleidung sind grau und braun, Flanell- oder Baumwollhosen, gestreifte Poloshirts; bunte Farben habe ich nie an ihm gesehen. Eine Freundin, die als Hiwi für ihn arbeite, meinte, dass sie manchmal an seinen Schläfen und in seinen Haaren Dreckkrusten sah. Mir ist das nie aufgefallen, ich kann mich auch nicht erinnern, dass er irgendeinen Geruch verströmte, das passte auch nicht zu meinen Bild von ihm.
Er fährt jeden Morgen, mit dem Bus zur Firma; mit derselben Linie mit der auch ich zur Arbeit fuhr, als ich noch kein Auto hatte. An der Haltestelle und im Bus liest er eine Tageszeitung, versteckt sich fast dahinter, sieht sich nicht um. Abends fuhr er mit derselben Linie zurück wie auch ich. Morgends steigt er an der Haltestelle "Kaiserplatz" ein, fährt abends aber nur bis zur "Augustastr.". Als ich noch den Bus benutzte, beobachtete ich ihn jeden Abend, wie er die Wilhelmstraße hinunter Richtung Aldalbertsteinweg ging. In der rechten Hand hielt er ein braune Aktentasche. Die Arme schwangen vor zurück wie Flossen. Wie beim Sprechen ruhte sein Kopf beim Gehen nicht, er presste das Kinn auf die Brust, schaute nach links auf die Straße, nach rechts auf die Häuser, schräg voraus nach oben. Monatelang versuchte ich ihn vom Bus aus zu observieren, während dieser sich durch den abendlichen Berufsverkehr kämpfte und er nach Hause ging; ich wollte herausfinden, wo er wohnte. Meistens war der Bus schneller als er, so dass ich ihn noch auf der Wilhelmstraße aus den Augen verloren. Nur ein paar Mal staute sich der Verkehr vorm Kaiserplatz derart, dass er vor mir, d.h. vor dem Bus, in dem ich sass, den Kaiserplatz erreichte, dann verlor ich ihn aber stets unter den anderen Passanten aus den Augen.
Seit ungefähr einem halben Jahr fahre ich nicht mehr mit dem Bus sondern mit dem eigenen Wagen zur Arbeit; seitdem sah ich ihn nur manchmal in der Kantine. Als ich gestern Abend von der Arbeit nach Hause fuhr und am Kaiserplatz an der Ampel stand, überquerte er vor mir die Kreuzung in Richtung Innenstadt. Er trug keine Aktentasche, ansonsten bewegte er sich wie immer: die Arme schwangen wie flossen, der Kopf kippte nach vorn, nach hinten, zu den Seiten. Ich beobachtete ihn, während am Kaiserplatz in der Menge verschwand.
Er ist einer dieser sonderbaren Menschen, bei denen ich mich frage, wie sie so sonderbar geworden sind und ob sie sich ihrer Sonderbarkeit bewusst sind und sich ihrer vielleicht am liebsten entledigen würden. Ist das eine überhebliche, eine arrogante Einstellung? Bin ich selbst nicht auch sonderbar, nicht sogar viel sonderbarer und auffälliger als er? Und doch nehme ich mich als normal war. Normaler als eher?
Manchmal versuche ich mir seine Wohnung vorzustellen. Ob die auch so grau eingerichtet ist, wie er sich kleidet? In meinen Augen ist er ein unattraktiver Mann. Obwohl ich es mir kaum vorstellen kann, weiß ich: Auch er hat irgendeinen Traum, eine Leidenschaft von der er mit leuchtenden Augen erzählen kann. Ich müsste ihn nur kennenlernen; aber das will ich natürlich nicht, sondern will ihn weiter als das sehen, als was er mir erscheint: sonderbar.
Er arbeitet in derselben Firma wie ich. Wie alt er ist, weiß ich nicht; bestimmt 10 bis 15 Jahre älter als ich. Er arbeitet noch immer in der Abteilung, in der ich damals in der Firma anfing. Er war einer der ersten Projektleiter, für den ich programmierte. Schon damals wunderte ich mich über ihn. Wenn man sich mit ihm unterhält, schaut er einen nicht an, sein Kopf steht nicht still, kippt zur Seite, nach hinten, nach vorn, seine Augen blinzeln, die Stimme klingt immer hektisch. Er trägt eine schmale Brille, die Haare sind kurz geschnitten: Topfdeckelschnitt. Um die Taille wölbt sich der Bauch wie ein schlaffer Rettungsring. Die Grundfarben seiner Kleidung sind grau und braun, Flanell- oder Baumwollhosen, gestreifte Poloshirts; bunte Farben habe ich nie an ihm gesehen. Eine Freundin, die als Hiwi für ihn arbeite, meinte, dass sie manchmal an seinen Schläfen und in seinen Haaren Dreckkrusten sah. Mir ist das nie aufgefallen, ich kann mich auch nicht erinnern, dass er irgendeinen Geruch verströmte, das passte auch nicht zu meinen Bild von ihm.
Er fährt jeden Morgen, mit dem Bus zur Firma; mit derselben Linie mit der auch ich zur Arbeit fuhr, als ich noch kein Auto hatte. An der Haltestelle und im Bus liest er eine Tageszeitung, versteckt sich fast dahinter, sieht sich nicht um. Abends fuhr er mit derselben Linie zurück wie auch ich. Morgends steigt er an der Haltestelle "Kaiserplatz" ein, fährt abends aber nur bis zur "Augustastr.". Als ich noch den Bus benutzte, beobachtete ich ihn jeden Abend, wie er die Wilhelmstraße hinunter Richtung Aldalbertsteinweg ging. In der rechten Hand hielt er ein braune Aktentasche. Die Arme schwangen vor zurück wie Flossen. Wie beim Sprechen ruhte sein Kopf beim Gehen nicht, er presste das Kinn auf die Brust, schaute nach links auf die Straße, nach rechts auf die Häuser, schräg voraus nach oben. Monatelang versuchte ich ihn vom Bus aus zu observieren, während dieser sich durch den abendlichen Berufsverkehr kämpfte und er nach Hause ging; ich wollte herausfinden, wo er wohnte. Meistens war der Bus schneller als er, so dass ich ihn noch auf der Wilhelmstraße aus den Augen verloren. Nur ein paar Mal staute sich der Verkehr vorm Kaiserplatz derart, dass er vor mir, d.h. vor dem Bus, in dem ich sass, den Kaiserplatz erreichte, dann verlor ich ihn aber stets unter den anderen Passanten aus den Augen.
Seit ungefähr einem halben Jahr fahre ich nicht mehr mit dem Bus sondern mit dem eigenen Wagen zur Arbeit; seitdem sah ich ihn nur manchmal in der Kantine. Als ich gestern Abend von der Arbeit nach Hause fuhr und am Kaiserplatz an der Ampel stand, überquerte er vor mir die Kreuzung in Richtung Innenstadt. Er trug keine Aktentasche, ansonsten bewegte er sich wie immer: die Arme schwangen wie flossen, der Kopf kippte nach vorn, nach hinten, zu den Seiten. Ich beobachtete ihn, während am Kaiserplatz in der Menge verschwand.
Er ist einer dieser sonderbaren Menschen, bei denen ich mich frage, wie sie so sonderbar geworden sind und ob sie sich ihrer Sonderbarkeit bewusst sind und sich ihrer vielleicht am liebsten entledigen würden. Ist das eine überhebliche, eine arrogante Einstellung? Bin ich selbst nicht auch sonderbar, nicht sogar viel sonderbarer und auffälliger als er? Und doch nehme ich mich als normal war. Normaler als eher?
Manchmal versuche ich mir seine Wohnung vorzustellen. Ob die auch so grau eingerichtet ist, wie er sich kleidet? In meinen Augen ist er ein unattraktiver Mann. Obwohl ich es mir kaum vorstellen kann, weiß ich: Auch er hat irgendeinen Traum, eine Leidenschaft von der er mit leuchtenden Augen erzählen kann. Ich müsste ihn nur kennenlernen; aber das will ich natürlich nicht, sondern will ihn weiter als das sehen, als was er mir erscheint: sonderbar.
sarah.tegtmeier - 24. Jul, 22:17