Wut
Es war ein sonniger Oktobertag, für den Monat ungewöhnlich mild, fast zwanzig Grad. Martha setzte sich auf eine Parkbank. Was für ein herrlicher Tag! Sie blinzelte in die Sonne und lauschte dem Rauschen des Windes in den Bäumen, das so laut war, dass es den Verkehrslärm des Alleenring übertönte. Martha wünschte, das Rauschen möge noch lauter werden, so laut das sie ihre Gedanken nicht mehr hören konnte. Eigentlich hatte sie gute Laune. Heute war Feiertag, sie hatte lange geschlafen, gefrühstückt, Zeitung gelesen, ein bisschen Schreibkram erledigt und hatte sich trotz des schönen Wetters mit "Das Wüten der ganzen Welt" in ihre Leseecke verkriechen wollen. Dann hatten ihre Gedanken begonnen zu flüstern, erst kaum hörbar, hatten gemurmelt wie ärgerliche Hexen, geschimpft wie betrogene Händler, jetzt schrien und tobten sie, als hätte der Titel des Romans sie aus ihrem Schlummer geweckt. Sie war aus der Wohnung an die frische Luft geflüchtet, wollte atmen, hoffte, dass der Herbstwind ihre Gedanken mit sich forttrüge wie das Laub, das er vor sich hertrieb. Marthas Wut blieb, trotze dem Wind und dem Sonnenschein. Warum war sie so wütend auf Anja? Warum ausgerechnet heute? Ihre Gedanken waren wie Pitbull-Terrier, die jemand in einer Grube eingesperrt hatte und sich gegenseitig zerfleischten: Sie stand am Rand dieser Grube und konnte sich nicht abwenden, obwohl der Anblick sie ekelte.
sarah.tegtmeier - 1. Nov, 19:01