Sinkflug
Er verlässt seinen Platz, seinen Arbeitsplatz, ohne sich etwas dabei zu denken, schaut hinaus in die Weite vor ihm, genießt diesen Blick, nickt seinem Copiloten zu. Er mag diesen Moment, wenn die Maschine für ein paar Sekunden frei fliegt, während er den Steuerknüppel loslässt und der Mann neben ihm noch nicht die Kontrolle übernommen hat. Wenn die Maschine Gefühle hätte, welche wären das jetzt in diesem Moment? Wenn sie plötzlich mit Flügeln schlüge, als wäre sie tatsächlich ein riesieger Kranich aus Stahl? Wenn sie sich zur Seite drehte, die Passagiere aufschrien aus Angst vor einem möglichen Absturz? Wenn sie dann aufeinmal merkten, dass ihnen nichts drohte sondern nur den ruhigen Schlag der stählernen Schwingen beobachteten, ein Lächeln auf ihren Gesichtern sich ausbreitete, weil sie diesem Wunder trauten?
Er schmunzelt, bespricht mit seinem Copiloten die vorgeschriebenen Schritte. Durch die Scheibe kann er den blauen Himmel sehen. Noch empfindet er so etwas wie Ehrfurcht. Obwohl er die Theorie der Aerodynamik verinnerlicht hat, staunt er immer noch, wie sie trotzdem funktioniert. Irgendwo endet das Blau, irgendwann dünstet sich die Atmosphäre so weit aus, dass man nicht mehr von ihrer Gegenwart sprechen kann. Er wundert sich jedes Mal, wenn er auf die Wolken blickt, die unter der Maschine vorüber ziehen, warum er diese Grenze, obwohl sie absolut und fundamental ist, noch nie gesehen hat.
Er klopft seinem Copiloten anerkennend auf die Schulter, denkt alles mögliche, hat schon mehrere Flüge mit diesem jungen Kollegen absolviert. Auch wenn der Copilot etwas still, mag er ihn, fliegt gern mit ihm. Manchmal kommt es ihm vor, als trage der junge Kollege etwas auf seinen Schulter, eine Last, die ihn nicht so unbeschwert und draufgängerisch agieren lässt. Er war selber einmal so jung, dachte, er könne die Welt in 24 Stunden allein in einem Jet umfliegen. Gerade diese Zurückhaltung festigt sein Vertrauen in den Copiloten, kein Grund sein Eindruck zu melden. Menschen sind verschieden. Der eine flattert wie ein Schmetterling, der andere kämpft schwer mit der Luft, torkelt im Wind wie ein Maikäfer, der zufällig entdeckt hat, wozu diese Flügel gut sind. Er zwinkert seinem Copiloten aufmunternd zu. Bestimmt hatte er gehofft, dass sich so etwas ergäbe, wo er für einen Moment die Kontrolle über die Maschine bekäme, um ihr seinen eigenen Kurs aufzuzwingen: Im Steigflug hinauf zu der Grenze.
Wenn er selber doch noch einmal so jung und unbeschwert wäre. Er tritt aus dem Cockpit. Die Tür fällt hinter ihm zu. Er geht auf die Toilette. Er hätte heute Morgen nicht so viel Kaffee trinken sollen, sich wenigstens das zweite Glas Orangensaft verkneifen. Er holt sich aus der Bordküche einen Kaffee, wie schwach er doch war, flirtet noch etwas mit einer der Stewardessen, dann steht er auch schon wieder vor der Tür zum Cockpit. Er klopft, schaut den Gang hinunter zu den Passagieren. Das muss eine Schulklasse sein, denkt er, als er die Teenager in der ersten Reihe erblickt. Er nippt an seinem Kaffee, klopft noch einmal. Wahrscheinlich war sein Klopfen nur zu zaghaft.
Die Tür bleibt verschlossen.