Meine neue Mitbewohnerin
Vor ein paar Jahren habe ich einen Film gesehen, in dem es um eine Untersuchung ging, wie viel Zeit Menschen in ihrer Wohnung mit bestimmten Tätigkeit verbringen. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, wie die Arbeitsabläufe in der Wohnung optimiert werden könnten und was bei der Planung der Inneneinrichtung berücksichtigt werden musste, damit die Bewohner die Hausarbeiten möglichst effektiv verrichten könnten. Zu diesem Zweck wurden Beobachter in die Wohnung geschickt. Sie reisten in winzigen Wohnwagen an, die sie in den Vorgärten der Häuser abstellten. Tagsüber hockten die Beobachter auf Hochsitzen, die in den Wohnungen montiert wurden. Von dort herab protokollierten sie alle Tätigkeiten des Bewohners mit einer Stoppuhr. Wie lang braucht er, um von der Küchetür zum Herd zu gehen? Wie lang dauerte es ein Ei zu kochen? Wie viel Zeit verbrachte der Mieter mit den Mahlzeiten? Die Beobachter hatten die strikte Anweisung, sich nicht mit den Menschen zu unterhalten. Für die Bewohner sollten die Beobachter praktisch nicht vorhanden sein. Jedwede Form der Kommunikation war verboten. Der Film spielte in den 50er oder 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Grenzgebiet von Schweden und Finnland.
Leider kann ich mich nicht mehr an den Titel des Films erinnern. Seit einigen Wochen denke ich öfter an eine Szene aus dem Film, die mir damals irgendwie Angst machte, mir sonderbar und unheimliche vorkam, obwohl sie vollkommen harmlos war.
Ein allein lebender älterer Mann betrat seine Küche. Er schnitt sich eine Scheibe Brot, schmierte Butter darauf und belegte sie mit einer Scheibe Wurst. Er füllte ein Glas mit Milch, setzte sich an den Küchentisch, trank und aß. Währenddessen notierte der Beobachter des Mannes von seinem Hochsitz aus jede Regung des Mannes.
Die Küche war spartanisch eingerichtet. Der Mann saß an einem rustikalen Holztisch, auf dem weder eine Tischdecke lag noch eine Vase mit Blumen stand. Von der Wand blätterte der Putz. Eine Spüle, ein rostiger Gasherd, über dem ein oder zwei Schränke hingen. Um die Beine des Mannes schnurrte keine Katze, am Kühlschrank hingen keine Familienfotos und Postkarten. Der Mann hatte keine Angehörigen, lebte allein, traf sich ab und zu mit Kumpanen in einem Wirtshaus auf ein paar Bier.
Was mir an dieser Szene, in der der Mann die Bissen kaute und gelegentlich mit einem ironischen Lächeln zu seinem Beobachter schielte, so unheimlich, so unerträglich vorkam, war die Stille, in der der Mann lebte. Während er sein Mahl aß, lief im Hintergrund kein Radio. Ich glaube, der Mann besaß noch nicht mal eines. Der Stuhl, auf dem er saß, knarrte, wenn er sich über den Teller beugte. Das Milchglass klopfte auf den Tisch, wenn er es absetze. Der Teller schrammte über das Holz, wenn er ihn versehentlich anstieß. Wenn er trank, gluckste er. Als er das Geschirr zur Spüle brachte, ächzten die Dielen. Der Wasserhan zischte, als er den Teller wusch. Das waren die einzigen Geräusche. Der Mann schwieg, der Beobachter schwieg, selbst die Wohnung schwieg.
Ich drückte mich tiefer in den Kinosessel und fragte mich, wie der Mann diese Stille aushielt. Wenn ich damals nach Hause kam, vertrieb ich zuerst die Stille aus der Wohnung. Ich schaltete das Radio oder den Fernseher ein, sorgte mit Musik für Hintergrundgeräusche.
Damals ...
Seit ungefähr einen Monat habe ich eine neue Mitbewohnerin. Wie lange bin ich achtlos an ihr im Treppenhaus vorbeigeeilt, wenn sie auf dem Fußabtreter hockte und darauf wartete, dass sie eintreten dürfe. Sie scheint schon länger geahnt zu haben wie gut wir miteinander auskommen würden.
Vor einigen Wochen beim Frühstück sah ich endlich ein, dass ich nicht gleichzeitig das Morgenmagazin auf WDR 5 hören und die Tageszeitung lesen konnte. Egal wie sehr ich mich auf das eine konzentrierte, das andere war immer neidisch darauf bedacht, meine Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Ich habe absolut kein Talent für Multitasking. Ich erinnerte mich, wer im Treppenhaus auf Einlass wartete.
„Also gut“, sagte ich zu ihr und öffnet die Tür, „du darfst reinkommen!“
Während sie sich in meiner Wohnung ausbreitete, schaltete ich das Radio aus und widmete mich wieder meinem Müsli und der Tageszeitung. Seit diesem Morgen, seit über einem Monat habe ich das Radio nicht mehr eingeschaltet. Anfangs war es etwas ungewohnt, aber ich vermisste nichts. Ich hatte ja meine neue Mitbewohnerin. Inzwischen habe ich nicht einmal mehr das Bedürfnis es einzuschalten und überlege, es wegzuräumen, weil dann auf dem Schrank Platz für eine Blumenvase wäre. Ich lasse mit nicht mehr von meinem Radiowecker wecken sondern von meinem Telefon. Es schweigt, sobald ich aufgestanden bin. Alle Hintergrundgeräusche, die mir sonst so wichtig schienen, flohen vor ihr, als sie ihre Habe auspackte.
Meine neue Mitbewohnerin verlangt im Badezimmer keinen Platz für eine Zahnbürste. Sie lässt keine stinkenden Socken herum liegen. Ich musste im Kleiderschrank meine Pullover nicht zur Seite schieben. Sie beansprucht nur den leeren Raum um mich herum. Sie hört mir zu. Sie unterbricht mich nicht. Sie tröste meine Gedanken. Sie wärmt meine kalten Füße. Sie umhüllt mich. Sie verträgt sich mit meinen Katzen. Sie ist nur sie selbst: Die Stille in meiner Wohnung.