Nocturn
Du startest iTunes und wählst das Album Aerial aus, du klickst auf den Song "Nocturn". Du drückst den Playknopf. Du lehnst dich zurück. Dein Bürostuhl quietscht. Der Song beginnt. Du schließt die Augen und stehst an einem Strand. Du bist nackt. Deine Kleidung hast Du in den Dünen zu einem Haufen zusammengelegt. Du schaust nach links, nach rechts den Strand entlang. Da stehen andere, nackt wie du, Männer, Frauen, Kinder. Ihr lächelt Euch an. Wie auf ein geheimes Komando macht Ihr alle gleichzeitig einen Schritt, ein paar Sekunden später den nächsten, dann geht Ihr auf das Meer zu. Du blickst hoch zum Himmel, Sterne funkeln über Dir wie Algen, Plankton, Krill in einen unendlich tiefen Ozean. Das Meer ist weit draußen. Einen langen Weg hast Du zu gehen. Der Sand ist trocken von der Glut des Sommertages, die Sonne taucht hinter den Horizont, ein glutroter Ball, an ihrer oberen Kante strahlt für einen Augenblick ein grüner Lichtblitz. Du hast den Namen dieses Phänomens vergessen, aber Du weißt, das es diesen Effekt gibt. Du hast ihn erst vor einigen Tagen auf der Seite des Astronomy Picture of the Day gesehen. Du gehst weiter, Schritt für Schritt, manchmal blickst Du zu den anderen, aber der Horizont zieht deine Augen an, als gäbe es dahinter etwas, das deinen Hunger, deinen Durst - wonach? - stillen könnte. Die Dunkelheit kommt rasch. Ein paar Möwen kreischen über euch, heisere Schreie. Ansporn? Eine Warnung? Es ist jetzt so dunkel, Du kannst kaum deine Füße sehen. Wenn Du zurück blickst zum Strand, siehst Du die Fußspuren im Sternenlicht glitzern, Perlen einer gerissenen Kette. Wer hat sie getragen? Das Wasser erschrickt Dich, als die ersten Wellen Deine Füße umspülen. Wieder siehst Du zu den anderen, einige lächeln Dir zu, andere fürchten sich. Ihr geht weiter ins Meer hinaus. Es ist warm. Das Meer kommt schnell, die Flut ist schneller als das Licht. Du watest in den Ozean hinaus. Die Wellen branden gegen deinen Brustkorb. Das Wasser ist salzig, brennt in den Augen. Die ersten lassen sich ins Wasser gleiten, schwimmen weiter zum Horizont, immer weiter hinaus, immer tiefer hinein in den Ozean. Erst als Du den Boden nur noch mit den Fußspitzen berührst, fängst auch Du an zu schwimmen. Tiefste, dunkelste Nacht und doch wird die Nacht immer schwärrzer, jedes Photon lasst Ihr hinter Euch. Jede Hoffnung? Irgendwo plätschert etwas, als springe jemand ins Wasser. Du ahnst das Signal, Du streckst den Kopf nach oben, ein paar winzige Sterne, Du holst Luft, dann tauchst Du, erst mit geschlossen Augen, dann öffnest Du sie, Du siehst die Schatten der anderen. Tiefer taucht Ihr, immer tiefer hinab. Du hast deinen Atem vergessen, Du bereust es nicht. Tiefer! Tiefer! Tiefer! Irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht. Das Schimmern schwillt von allen Seiten an, da kommt es das Licht. Wie tief bist Du? Wie tief Du bist! Du tauchst weiter. Das Licht kommt ...
sarah.tegtmeier - 5. Feb, 23:25