Liebe Leserin, lieber Leser

ich grabe in meinem Bergwerk nach Texten und finde: Nuggets, Kristalle, Edelsteine und viel zu oft Katzengold. An den Fundstücken klebt Schlamm. Sie müssen gewaschen und poliert werden. Das alles mache ich hier nicht.

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1
Feb
2014

hetero, schwul, trans? na und!



Irgendwann Anfang der 80er Jahre fragte mich ein Junge aus meinem Dorf: „Sag mal, was bist Du: heterosexuell oder homosexuell?“ Zu dem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was er von mir wollte. Wir waren auf dem Rückweg vom Spielplatz. Warum er mich begleitete, weiß ich nicht mehr. Ich kannte ihn nur flüchtig. Er war ein oder zwei Klassen unter mir. Ich traf ihn nur auf dem Spielplatz. Er drängte mich zu einer Antwort. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es eine falsche und eine richtige Antwort gäbe. Wenn ich damals schon die Bravo gelesen hätte, hätte ich vielleicht gewusst, worauf seine Frage abzielte und wie die richtige Antwort lautete. Meine Eltern haben sich mit mir nie über solche Dinge unterhalten, erst recht nicht über Abweichungen von Norm. Auch im Sexualkundeunterricht wurde darüber nicht gesprochen. Was wollte dieser Junge also von mir? Warum fragte er mich das? War mein Verhalten auffällig, unterschied es sich von dem der anderen Jungen aus meinem Dorf? Ungefähr zur gleichen Zeit begann ich mich für den Kleiderschrank meiner Mutter zu interessieren. Ich näherte mich dem Eingang der Vorhölle, die umgangsprachlich auch als Pubertät bezeichnet wird.

Irgendwo sitzt gerade vielleicht Mattei an seinem Schreibtisch, stützt den Kopf mit beiden Händen und rauft sich die schwarzen Locken. Er versucht sich auf die Lateinübersetzung zu konzentrieren. Vom Fenster seines Zimmer kann er auf den Hof herabschauen. Sein Vater fährt in einem Trecker vor, springt aus dem Führerhaus und winkt seinem Sohn zu. Mattei versucht so zwanglos wie möglich zu lächeln. Er will sich nichts anmerken lassen, erst nicht etwas, das er weder versteht noch benennen kann. Alle Schulaufgaben hat er erledigt, sogar Mathe hat er schon geschafft, obwohl er das Fach wie kein anderes hasst. Warum fällt ihm die Übersetzung so schwer? Er kennt alle Vokabeln. Die Grammatik hat er auch drauf. Trotzdem kann er sich nicht auf den Text konzentrieren, stattdessen muss er immer an den jungen Lateinlehrer denken. Er blickt hinaus aus dem Fenster über die Ausläufer des Schwarzwaldes. Die Wipfel ducken sich im Wind, als wollten sie vor dem heraufziehenden Gewitter abtauchen. Die Fensterläden klappern. Mattei greift nach seinem Füller, schüttelt den Kopf, schlägt das Heft auf und will schreiben, dann zögert er, starrt wieder aus dem Fenster in die Ferne, bewegt mechanisch an den Stift über das Papier, achtet nicht auf die Buchstaben, zwingt seine Gedanken auf die Lateinübersetzung und erschrickt, als er liest, was er geschrieben hat: Den Namen seines Lateinlehrers, schnörkellos und klar. Er umkreist den Namen mit dem Füller, bis dieser mit einer tintenen Mauer umgebeben ist.

Irgendwo rennt Laura das Treppenhinaus hinunter auf die Straße. Die Mutter ruft hinter ihr. Laura hält sich die Ohren zu, achtet nicht auf die Leute auf dem Bürgersteig, stößt mit einer Nachbarin zusammen. Erst am Ende der Straße, wo der Wald anfängt, der Straßenlärm kaum noch hörbar ist, verlangsamt sie den Schritt. In einer Hand hält sie noch immer die Schere, krallt die Finger darum, dass die Gelenke weiß hervor treten. Sie mag den Geruch nach Tannennadeln, zieht die Ballerinas aus. Der Boden, noch nass vom letzten Gewitter, schmatzt unter ihren nackten Füßen. Am Ufer eines Baches sinkt sie auf die Knie und betrachtet ihr Spiegelbild. Wer ist das Mädchen in dem blumigen Sommerkleid? Die Mutter zwang sie, es anzuziehen. Eine junge Dame muss sich schließlich schick machen, wenn am Sonntag Gäste zum Kaffee kommen. Laura zieht das Kleid über ihren Kopf, zerschneidet es mit der Schere und wirft die Fetzen in den Bach. Als der Wind durch den Wald bläst, zittert sie vor Aufregung. Sie beugt sich wieder über ihr Spiegelbild und schneidet sich die langen blonden Haare ab, um die sie ihre Mitschülerinnnen beneiden. Mit jeder Strähne, die sie in den Bach fallen lässt, tastet sie sich näher an sich selbst heran.

Was wäre passiert, wenn ich mir zur Hochzeit meines Onkels Lauras Sommerkleid hätte ausleihen dürfen? Wenn ich mich mit Freundinnen vorm Spiegel geschminkt hätte? Wenn ich mit lackierten Fingernägeln, in Minirock und Bluse zur Schule gegangen wäre? Wenn ich keine Angst hätte haben müssen deswegen von Mitschülern verprügelt zu werden? Wenn kein Lehrer, keine Nachbarin, keine Verkäuferin im Supermarkt mich deshalb schief angesehen hätte? Wenn ich ohne Angst aufgewachsen wäre, weil ich in der Schule gelernt hätte, was abweichende Geschlechtsindentitäten sind? Wenn es normal gewesen wäre? Wenn ich mit jemanden darüber hätte reden können? Vielleicht hätte ich irgendwann die Lust daran verloren, vielleicht wäre ich noch immer ein Mann oder viel früher eine Frau geworden.

Was würde es für Mattei und Laura bedeuten, wenn sich Initiativen wie die Petition „Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regensbogens“ - nein, ich füge den Link dazu hier ganz bestimmt nicht ein - durchsetzten? Man schickte sie auf den gleichen Weg, den ich gegangen bin: Durch die Vorhölle. Sie werden sich zurückziehen, sie werden sich verbiegen, sie werden lügen, ständig in Angst leben, entdeckt zu werden, vielleicht werden sie brechen, dann wird man sie mit aufgeschlitzten Pulsadern in einer Badewanne finden oder ihre zermatschten Körpter von einem Bahngleis wischen. Wenn sie Glück haben, finden sie irgendwann den Weg hinaus aus dieser Vorhölle und kommen bei sich selbst an. Ich hatte dieses Glück, aber der Weg dorthin hat mich fast die Hälfte meines Lebens gekostet.

Ein paar der Formulierungen in der Petition haben mich tatsächlich nachdenklich gemacht, einigen Punkten könnte ich sogar zustimmen. Was mich an ihr aber meisten stört und erschreckt, ist, dass sie Angst macht, dass sie suggeriert, Kinder und Jugendliche lebten in ständiger Gefahr, schwul oder transgender zu werden, wenn sie zu viel darüber wissen, und dass die sogenannten „LSBTTIQ-Lobbyisten“ danach trachten, unser Gesellschaft zu stürzen. Was für ein Unsinn!

Fünf bis zehn Prozent aller Menschen sollen je Quelle homosexuell sein oder eine abweichende Geschlechtsindentität haben. Man muss verstehen, was diese Aussage bedeutet. Einige dieser Menschen wissen schon in frühester Kindheit, dass sie mit ihrem angeboren Geschlecht nicht glücklich werden, andere fühlen sich ab der Pubertät von ihrem eigenen Geschlecht angezogen und einige können oder wollen sich ihr ganzes Leben nicht auf ein Geschlecht beschränken. Sie sind nicht abnormal sondern im Gegenteil vollkommen normal und wollen nur so leben, wie es ihrer Natur entspricht. Homosexualität und Gender-Abweichungen sind ein Teil der menschlichen Natur: Das Tier Mensch hat mehr als zwei Geschlechter und beschränkt sich in seiner Partnerwahl nicht auf das andere Geschlecht. Das ist eine Aussage der Häufigkeitsabschätzung am Anfang des Absatzes. Diese Eigenschaft des Menschen muss an Schulen gelehrt werden wie die Evolutionslehre oder die Tatsache, dass die Erde um die Sonne kreist.

Eine andere Aussage lautet: Die restlichen 90 Prozent der Menschheit sind absolut immun gegen jedwede Form angeblicher LSBTTIQ-Ideologie. 90 Prozent der Mädchen träumen von einem Prinzen, 90 Prozent der Jungen davon irgendwann für ein Mädchen dieser Prinz zu sein. Keine Ideologie wird sie davon abbringen können. Wir sollten uns wünschen, dass unsere Kinder gegenüber weit gefährlicheren Ideologien ähnnlich immun sind wie gegen die angebliche LSBTTIQ-Ideologie.

Ein ehemaliger Arbeitskollege erzählte mir einmal von einem Erlebnis mit seinem gerade eingeschulten Sohn. Die beiden gingen an meinem Fahrrad vorbei, während ich nicht dabei war. Sein Sohn, der höchstens sechs oder sieben war und sich für mein Fahrrad begeisterte, sagte: „Das ist das Liegefahrrad von der Sarah. Die war früher ein Mann. Jetzt ist sie eine Frau. Das geht.“

Hier geht es zur Gegenpettion zu: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens


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